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Im Gefühlschaos

Franziska Hantsch (31) aus Kamenz ist Borderline-Patientin. Der Alltag ist für sie eine Katastrophe. Doch sie kämpft.

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© Matthias Schumann

Von Ina Förster

Für Franziska Hantsch aus Kamenz ist alles entweder Schwarz oder Weiß. Dazwischen gibt es wenig. An guten Tagen vielleicht. Vor allem, wenn sie ihre Buntstifte und Malfarben auspackt. Dann begibt sich die 31-Jährige für eine kurze Auszeit in eine andere Welt. Ist ganz bei sich. „Ich habe gemerkt, dass mir das gut tut. Vor allem, wenn ich konzentriert ausmale“, sagt sie. Dann kommt sie herunter. Findet heraus aus ihrem Gedanken-Wirrwarr. Franziska ist Borderline-Patientin. Eine Grenzgängerin zwischen den Gefühlen. Die kommen plötzlich und ohne Grund. Schlagen unvermittelt um. Weinen und Lachen liegen nah beieinander. Und damit Depression und Höhenflüge. Jeder kennt das von Zeit zu Zeit. Die Kamenzerin hat damit jedoch mehrfach am Tag zu kämpfen. „Mein Alltag ist die reinste Katastrophe“, sagt sie. Und auch wenn sie dabei lächelt, erkennt man den Leidensdruck dahinter. Borderline-Patienten leiden unter Störungen der Affektregulation, können ihre inneren gefühlsmäßigen Zustände kaum kontrollieren. Dabei dominieren äußerst unangenehme Spannungszustände, die manchmal als unerträglich empfunden werden.

Auch Franziska Hantsch entscheidet vieles aus dem Bauch heraus. Oft falsch. Ihre Unberechenbarkeit macht es der Familie und dem Umfeld nicht leicht. Die junge Frau weiß das, kann aber kaum oder selten dagegenwirken. Doch sie kämpft. Denn da sind die beiden Kinder. Eine Tochter, ein Sohn. Die brauchen sie. Und ihr Mann, der Franziska Hantsch nie anders kennengelernt hat. Denn die heute 31-Jährige hatte schon ihre gesamte Kindheit und Jugend über Probleme. „Als Kind kann man es nicht artikulieren, wenn irgendetwas nicht stimmt. Man will es vielleicht nicht wahrhaben. Aber man merkt es natürlich unterschwellig. Ich hatte nie Freunde. War einsam und zog mich zurück in mein Schneckenhaus“, erinnert sie sich. Jemand meinte einmal zu ihrer Mutter. „Sie haben so ein trauriges Kind!“ Später fiel ihnen der Satz wieder ein. Da machte er plötzlich Sinn.

Facharztmangel ist verheerend

Franziska Hantschs Leidensweg ist lang. Mittlerweile weiß sie, dass traumatische Erlebnisse in der frühesten Kindheit dahinterstecken. Die Erkenntnis darüber trifft sie wie ein Schlag, verändert einiges. Über viele Jahre muss sie das Geschehene professionell aufarbeiten. Doch ehe es überhaupt eine Diagnose gibt, das Chaos in ihr einen Namen bekommt, vergeht ungenutzte Zeit. Ihren erlernten Beruf der Gebäudereinigerin kann sie heute nicht mehr ausüben. „Es war die Hölle, und auch wenn es eigenartig klingt: Mir war so fürchterlich langweilig dabei. Ich habe richtig gelitten“, sagt sie heute. Ihre Umgebung versteht lange nicht, was nicht stimmt mit ihr.

Erst 2013 setzt sich die Welle aus Akut-Psychiatrie, langen stationären Aufenthalten, Tagesklinik und psychotherapeutischer Betreuung in Bewegung. „Da hatte ich meinen Selbstmordversuch“, sagt sie leise, aber bestimmt. Franziska Hantsch möchte darüber sprechen, hat kein Problem mehr, damit in die Öffentlichkeit zu gehen. Ein mutiger Schritt, Dinge zu verarbeiten. Denn sie möchte vorwärtskommen. „Ich muss es, das ist meine Chance, weiterzuleben“, sagt sie. Endlich hat die Mutter und Ehefrau auch einen Langzeittherapieplatz bei einem Psychotherapeuten bekommen. In Großhartau! Das ist zwar nicht vor Ort, aber um die Ecke. Eine bestimmte Verhaltenstherapie soll helfen, ihr Leben einfacher zu gestalten. Sie muss besser für bestimmte Extrem-Situationen gewappnet sein. „Diese Leere in mir braucht Füllmasse“, sagt sie. Ein ganzes Jahr lang hat sie auf den Termin gewartet. Der Facharztmangel in der Region ist verheerend. „Es ist leider wirklich so“, weiß Ergotherapeutin Katrin Petrasch zu berichten. Und ein Ende der Misere ist nicht abzusehen. Dabei steigen die psychischen und psychosomatischen Krankheiten stetig an.

Neuer Treffpunkt in Kamenz-Ost

Die Mitarbeiterin der Ergotherapie Schiewack in Kamenz kennt Franziska Hantsch länger, begleitet sie. Auch im neuen Treff „Kreative Inklusionen“ wird sie im nächsten Vierteljahr anleitend zur Seite stehen. In der Ergotherapie erkannte man ihr kreatives Potenzial. „Wir haben einige Patienten, die tolle Sachen können und denen Hobbys und Kunst bei der Bewältigung ihrer Krankheit helfen. Diese möchten wir gern zusammenbringen. Und haben deshalb nach einem geeigneten Treff gesucht“, erzählt Chef Michael Schiewack. Bei der Kamenzer Wohnungsbaugenossenschaft in Kamenz-Ost wurden sie fündig. In diesem Stadtteil bündeln sich auch die Krankenzahlen in besagter Richtung. Gemeinsam mit der AG Gesundheitsförderung im Landratsamt erarbeitete man ein Konzept, das auf Gegenliebe traf. Beatrice Müller vom Amt war zur Eröffnung der „Kreativen Inklusion“ am Dienstag dabei. „Für mich kann dieser neue Treff ein Schlüssel sein, die Leute in ihren Lebenswelten abzuholen“, sagt sie. Diese müssen freilich den ersten Schritt tun. Sich etwas trauen. Die soziale Isolation durchbrechen. Das sei oft das Schwierigste. Franziska Hantsch hat den Schritt bereits getan. Sie wird dienstags mit ihren Malsachen vor Ort sein. Und freut sich – auf Wertschätzung, Gespräche und Kreativität. Diesmal wird ihr Bauchgefühl sie sicher nicht trügen …