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Ich war dann mal weg

Erst wenn man die gewohnte Umgebung verlässt, wird einem bewusst, wie wichtig Heimat ist. So ging es unserer Autorin beim Schüleraustausch in Frankreich.

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© Sven Ellger

Von Annica Kramer

Meine Freundin und ich stehen am Bahnhof. Ich zittere am ganzen Körper. Schon während der letzten paar Stunden Zugfahrt war ich so aufgeregt wie noch nie. Und jetzt sind wir hier und warten auf den Moment, vor dem wir beide so große Angst hatten: das erste Zusammentreffen mit unseren französischen Gasteltern. Meine Austauschpartnerin kenne ich bereits, sie war erst vor knapp zwei Monaten im Januar bei mir in Dresden. Ihre Eltern habe ich bisher allerdings nur auf Fotos gesehen, und ich habe Bedenken, dass sie mich nicht mögen oder ich sie nicht verstehe.

Und dann ist es so weit. Ich habe gar keine Zeit irgendwas zu sagen, da werde ich schon herzlich begrüßt. Küsschen rechts, Küsschen links – wie es sich für Franzosen gehört. Ziemlich ungewohnt, in Deutschland ist ja eher ein Händedruck oder eine Umarmung üblich. Plötzlich fällt die ganze Anspannung von mir ab. Auch wenn ich in diesem Moment bis auf „oui“ und „non“ mein ganzes Französisch vergessen habe, kommen wir gut miteinander klar. Alles läuft super, bis es heißt, von meiner deutschen Freundin Abschied zu nehmen, denn mittlerweile sind auch ihre Gasteltern eingetroffen und zum ersten Mal realisiere ich, dass ich jetzt auf mich allein gestellt bin. Während der Autofahrt nach Straßburg wird mir bewusst, dass ich die nächsten drei Wochen bei einer fast fremden Familie leben werde, weit weg von meiner Heimat. Einerseits freue ich mich darauf, andererseits ist es auch etwas beängstigend, dass diesmal weder meine Familie noch meine Freunde da sind, um mich zu unterstützen.

Das Angebot für den Austausch mit Straßburg kam relativ plötzlich, doch trotzdem war für mich von Anfang an klar, dass ich diese Chance ergreifen wollte. Ich fand schon immer, dass Französisch eine tolle Sprache ist, lerne sie seit acht Jahren in der Schule und hoffte, sie nach dem Austausch noch besser zu verstehen und zu sprechen. Außerdem ging es mir auch darum, neue Erfahrungen zu sammeln. So eine Gelegenheit bekommt man schließlich nicht oft. Trotzdem schienen nur wenige aus meiner Klasse dieser Meinung zu sein, denn die Mehrheit entschied sich gegen den Austausch, hauptsächlich, weil sie nicht so viel Schulstoff verpassen wollten.

Vorspeise, Hauptgang, drei Desserts

Es gab aber auch einige, die Angst hatten, ihre Heimat zu verlassen. Sie meinten, dass sie sich woanders nicht so wohlfühlen würden, weil sie die Leute nicht kennen und ihnen nichts vertraut ist. Auch ich hatte in Frankreich teilweise schreckliches Heimweh, genau wie meine Austauschpartnerin, als sie bei uns war. Es war einfach eine ungewohnte Umgebung und viele Dinge waren anders als bei uns.

Mitunter haben mir banale Sachen Probleme bereitet. Zum Beispiel die Mahlzeiten. Nicht das Essen an sich machte mir zu schaffen, auch wenn das meiste, was es gab, neu für mich war. Wir aßen meist einen Mix aus Französisch und Algerisch – der Gastvater ist Algerier. Eine Herausforderung war vielmehr die Masse an Essen, die die Franzosen verdrücken. Vorspeise, Hauptgericht und drei Desserts waren dann doch etwas viel für mich.

Fremde Sprache als Barriere

Eine der größten Umstellungen war für mich die Schule, denn die war oft erst gegen 17 Uhr zu Ende. In den Klassenzimmern herrschte eine Lautstärke wie bei uns in Deutschland in der Pause, und die Lehrer ließen ihren Schülern fast alles durchgehen. Womit ich auch oft zu kämpfen hatte, war die Mentalität der Franzosen, denn zumindest in meinem Umfeld befanden sich viele sehr temperamentvolle Menschen. Im Gegensatz dazu sind die Deutschen ziemlich ruhig. Während sich in meiner Klasse die meisten anfangs distanziert und schüchtern gegenüber den Franzosen verhielten, wurde ich an meinem ersten Schultag gleich von vielen Schülern angesprochen und ausgefragt. Vor allem meine Austauschpartnerin lernte ich noch mal ganz anders kennen als bei ihrem Aufenthalt in Dresden. Sie war plötzlich sehr selbstbewusst und es kam öfter mal zu Missverständnissen. Die konnten wir aber zum Glück immer beseitigen.

Die Sprache war natürlich meine größte Hürde. Oft konnte ich nicht das sagen, was ich gern sagen wollte. So fehlte es mir häufig an Gesprächsthemen, denn ich konnte nur über das reden, was ich auch in Französisch ausdrücken konnte. Das fand ich ärgerlich, denn ich glaube, dass ich schneller eine Beziehung zu meiner Gastfamilie aufgebaut hätte, wenn mir das Sprechen leichter gefallen wäre. Sie gaben sich jedoch große Mühe, mir die Sprache und auch die fremde Kultur näherzubringen. Sie zeigten mir Straßburg und verbrachten mit mir ein Wochenende in Paris.

Während des Austauschs habe ich nicht nur Neues kennengelernt, sondern auch etwas erkannt. In der Fremde wurde mir plötzlich bewusst, was für ein schönes Leben ich in Dresden habe. Ich habe nicht nur meine Familie und meine Freunde vermisst, sondern auch Dinge, von denen ich nie erwartet hätte, dass ich sie überhaupt jemals vermissen könnte. Meinen öden, aber kürzeren Nachhauseweg, die im Vergleich zu französischen Städten leeren Straßenbahnen, sogar die Schule.

So habe ich eine völlig neue Sicht auf meine Heimat gewonnen. Ich weiß jetzt, dass Heimat nicht einfach nur dort ist, wo man wohnt, sondern auch, wo man sich wohlfühlt. Dort, wo man seine Routinen hat, nicht erst darüber nachdenken muss, was man als Nächstes sagt oder tut. Dort, wo man hingehört. Heute schätze ich meine Heimat mehr als vorher. Weil ich weiß, wie sehr ich sie brauche und wie schwer es sein kann, wenn man weg von zu Hause ist.