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„Ich kann mir nicht vorstellen, hier wieder wegzuziehen“

Wie Anna Janiec nutzen viele Polen die offenen Grenzen in der EU, um in Görlitz zu leben oder zu arbeiten.

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© nikolaischmidt.de

Von Katarzyna Wilk-Sosnowska und Katrin Schröder

Görlitz. Aus dem Bürofenster schaut Anna Janiec auf den Postplatz. Zwar sorgt die Baustelle vor der Haustür derzeit für Lärm und andere Unannehmlichkeiten, doch die 34-Jährige freut sich trotzdem am Blick auf das sonnige Kleinod im Herzen von Görlitz. „Ich mag meine Arbeit und den Ort, an dem ich lebe“, sagt die junge Polin, die aus Boleslawiec (Bunzlau) stammt.

Seit fünf Jahren leitet sie bei der Firma Teleperformance eine Abteilung, die sich unter anderem mit Reklamationen und Rückforderungen befasst. Zuvor war sie mehr als sechs Jahre im Unternehmen als Kundenberaterin beschäftigt. „Görlitz ist mein kleines Breslau. Ich kann mir nicht vorstellen, von hier wieder wegzuziehen“, sagt sie – in die polnische Oderstadt hat sie sich während ihrer Ausbildung zur Visagistin verliebt. Auf der deutschen Seite der Neiße lebt sie nun mit ihren zwei Söhnen, dem neunjährigen Alex und dem dreijährigen Bastian. Sie schätzt die Grenzlage und die Nähe zum Berzdorfer See, wo sie im Sommer gern Zeit mit der Familie verbringt.

Rund 3500 Polen leben derzeit in Görlitz. Sie arbeiten als Ärzte, Lehrer, Krankenschwestern, Pfleger in Alten- und Behindertenheimen, als Verkäufer, Bankkaufleute und Kellner, als Physiotherapeuten, Friösre und Übersetzer. Manche haben eigene Unternehmen gegründet, betreiben Geschäfte und Restaurants. Nicht alle, die in Görlitz und Umgebung arbeiten, entscheiden sich auch für einen Umzug nach Deutschland, sondern pendeln aus Polen zur Arbeit her.

Zum Beispiel Paulina Gonera: Die 30-Jährige wohnt in Trojca bei Zgorzelec und fährt jeden Tag 25 Kilometer zu ihrer Arbeitsstelle und 25 Kilometer zurück. In Sohland arbeitet sie als Heilerziehungspflegerin. „Ich habe es geschafft, dass meine Ausbildung in Deutschland anerkannt wird. Darüber habe ich mich sehr gefreut“, sagt die Sonderpädagogin, die in ihrem Heimatland ein Studium abgeschlossen hat. Auf der deutschen Seite musste sie zunächst noch ein Praktikum absolvieren und dann eine Prüfung bestehen. Ihre Arbeit bringe ihr nicht nur Geld und Berufserfahrung, betont Paulina Gonera. Ihr sei es wichtig, die Nachbarn, ihre Kultur und Sprache kennenzulernen.

Ihr Landsmann Andrzej Paczos ist in vielen Sprachen und Kulturen zu Hause. Vor zehn Jahren ist der 58-Jährige nach Görlitz gezogen, jetzt zeigt er Touristen seine Wahlheimat. Der studierte Geograf, Übersetzer und Stadtführer aus Leidenschaft stammt aus Jelenia Gora (Hirschberg) und hat im Naturkundemuseum in Cieplice (Bad Warmbrunn) gearbeitet. Er gibt Stadtführungen unter anderem auf Deutsch, Englisch, Französisch und in seiner Muttersprache, Polnisch. „Vor Kurzem habe ich zum ersten Mal eine Touristengruppe auf Spanisch durch Görlitz begleitet. Das war eine Herausforderung“, berichtet Paczos, der mit 16 Jahren begann, die Sprache zu lernen – als Autodidakt und mit Hilfe spezieller Sprachlernzeitschriften.

Darüber hinaus leitet Andrzej Paczos Ausflüge durch Niederschlesien, kann aber ebenso kompetent Urlauber in ganz Polen und verschiedenen europäischen Städten begleiten, zum Beispiel in der französischen Hauptstadt Paris. Er arbeitet mit dem Schlesischen Museum und dem Naturkundemuseum in Görlitz zusammen und hält an der Volkshochschule Vorträge über Polen, berichtet dort aus verschiedenen Wojewodschaften. „Ein Paar, das meine Vorträge gehört hat, gestand mir vor Kurzem, dass sie die Orte besuchen, von denen ich berichtet habe – und dass es dort wirklich schön war“, sagt der Kulturkenner mit einem Lächeln. „Das freut mich sehr, denn es bedeutet, dass das, was ich tue, einen Sinn hat.“