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„Ich durfte ja nie weinen“

Kindersoldaten in aller Welt kämpfen auch mit deutschen Gewehren, Pistolen und Granaten. Ein Junge, der im Ostkongo zum Töten gezwungen wurde, berichtet.

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Von Philipp Hedemann (Text und Foto)

Sie flehten um Gnade. Aber die Generäle hatten gesagt, dass wir nicht weich werden dürfen. Da machte ich die Augen zu, und rammte das Messer in sie. Immer wieder.“ Patrice* war zehn Jahre alt, als er gezwungen wurde, das erste Mal zu morden. Seine Opfer waren drei katholische Nonnen. Patrice war wie Tausende weitere Jungen und Mädchen Kindersoldat im seit über 20 Jahren anhaltenden Bürgerkrieg im Ostkongo. Noch immer kämpfen dort ungezählte Minderjährige. Auch mit deutschen Waffen. Die jetzt (9.2.2017) in Berlin vorgestellte Studie „Kleinwaffen in Kinderhänden. Deutsche Rüstungsexporte und Kindersoldaten“ weist darauf hin, wie Waffen aus deutscher Produktion in die Hände von Kindern gelangen und weltweit Konflikte befeuern.

„Auch wenn ich am Ende die Augen zugemacht habe, kann ich mich genau an sie erinnern. Sie waren ziemlich alt“, erinnert Patrice sich an seine ersten Opfer. Seine Einheit verdächtigte die Nonnen, einen Jungen zu verstecken, der kurz zuvor desertiert war. Ob er je bei den Nonnen untergetaucht war, fanden die Kindersoldaten nie raus.

Zwei Jahre bevor er selbst zum Mörder wurde, hatte Patrice einen Mord mit ansehen müssen. Den an seinem eigenen Vater. Bis heute weiß er nicht, wer in der Anarchie des Bürgerkrieges hinter dem Mord steckte. Aber er wusste, dass er sich ohne seinen Vater nicht mehr sicher fühlte. Freiwillig schloss er sich deshalb einer der vielen Mai-Mai-Milizen an, die ohne klare politische Ideologie, aber oft mit äußerster Brutalität gegen andere bewaffnete Gruppen und die Armee kämpften.

„Ich weiß nicht genau, wofür wir gekämpft haben. Ich war ja noch ein Kind. Ich habe nicht gefragt. Die Erwachsenen konnten mit uns ja sowieso machen, was sie wollten“, berichtet Patrice, der sich noch heute wie ein Soldat kleidet und gerne in Macho-Pose für die Kamera posiert.

Messer, Steine, Macheten, in Schlangen- und Insektengift getauchte Speere und Pfeile, später auch Pistolen, Gewehre und Handgranaten: Patrice hat mit vielen Mordinstrumenten getötet. Möglicherweise waren darunter auch Waffen aus deutscher Produktion. Denn in fast allen Konflikten, in denen Kindersoldaten eingesetzt werden, kommen auch deutsche Waffen zum Einsatz. Das zeigt die jetzt erschienene Studie des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit.

Obwohl der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes Deutschland schon mehrfach aufgefordert hat, gesetzlich zu verhindern, dass deutsche Waffen in Länder geliefert werden, in denen Kindersoldaten eingesetzt werden, gelangt immer noch Kampfgerät in diese Staaten. Laut der im Auftrag der Hilfsorganisationen Brot für die Welt, Kindernothilfe, terre des hommes und World Vision Deutschland erstellten Untersuchung erhalten selbst staatliche Armeen und Polizeieinheiten, die laut UN-Berichten für schwerste Kinderrechtsverletzungen verantwortlich sind, deutsche Waffen.

„Wenn Menschen- und Kinderrechtsorganisationen, aber auch der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, die deutsche Regierung auf diese Missstände hinweisen, bekommen sie seit Jahren immer dieselbe Antwort: Kein Handlungsbedarf, die deutsche Rüstungsexportpolitik ist restriktiv. Die Studie entlarvt diese Behauptung als reines Wunschdenken oder bewusste Falschaussage“, schreibt Ralf Willinger, Sprecher des Deutschen Bündnisses Kindersoldaten, im Vorwort.

Deutschland zählt seit Jahren zu den größten Kleinwaffenexporteuren. Seit 2002 wurden laut der Studie Kleinwaffenexporte im Wert von 800 Millionen Euro genehmigt, hinzu kommt Kleinwaffen-Munition im Wert von 407,3 Millionen Euro. Ein Teil davon gelangte in Krisengebiete, in denen Kindersoldaten eingesetzt werden. Auch über den Weiterexport über Drittstaaten und die Vergabe von Lizenzen zum Nachbau geraten immer noch viele deutsche Kleinwaffen in die Hände von minderjährigen Soldaten.

Weil sie bereits von Kindern getragen und bedient werden können, werden gerade die sogenannten Kleinwaffen und Leichten Waffen, zu denen das Sturmgewehr G3 und die Maschinenpistole MP5 von Heckler & Koch, aber auch Handgranaten, Maschinengewehre und Panzerfäuste zählen, besonders oft von Kindersoldaten eingesetzt.

„Kleinwaffen fordern weitaus mehr Menschenleben als alle anderen Waffensysteme – meist übersteigt die Zahl der Opfer, die sie alljährlich fordern, die der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki um ein Vielfaches. Gemessen an dem Blutbad, das sie anrichten, kann man Kleinwaffen gut und gerne als Massenvernichtungswaffen bezeichnen“, sagte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan deshalb bereits im Jahr 2000. Die Studie fordert deshalb unter anderem, den Export deutscher Kleinwaffen und entsprechender Munition ganz zu stoppen oder zumindest stark zu begrenzen.

Wären diese alten und immer noch aktuellen Forderungen bereits vor Jahren umgesetzt worden, wäre vielleicht auch Patrice seltener zum Mörder geworden. Wie viele Menschen ihm zum Opfer fielen, weiß er nicht. „Die Nonnen zu erstechen, war schwer. Die nächsten Menschen zu töten, war einfach. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Ich kann mich nicht an sie erinnern“, sagt der heute 19-Jährige. Ein Kind als Opfer, ein Kind als Täter.

Bevor er in die Schlacht zog, rauchte Patrice oft Marihuana und schnupfte Schießpulver. „Danach hatte ich vor nichts mehr Angst, habe nichts mehr gespürt. Ich habe dann so getötet, wie andere Kinder Fußball spielen“, erzählt der drahtige Jugendliche, der wegen seiner Brutalität ehrfurchtsvoll „Commander“ genannt wurde.

„Wenn uns langweilig war, haben wir Männern die Genitalien und Frauen die Brüste abgeschnitten. Manchmal haben wir das Blut unserer Feinde getrunken“, erzählt der ehemalige Soldat. Heute ekelt ihn an, was er als Kind tat, damals dachte er, dass es einen guten Soldaten ausmacht, besonders grausam zu sein.

Ein Jahr nachdem er das erste Mal tötete, wäre Patrice bei einem Gefecht mit Regierungstruppen beinahe selbst getötet worden. Viele seiner Freunde und Kameraden fielen, der damals Elfjährige wurde gefangen genommen. Doch auch die Armee hielt sich nicht an das Internationale Verbot, Kinder als Soldaten einzusetzen. Plötzlich musste er gegen seine ehemaligen Kameraden und Vorgesetzten kämpfen, denen er noch kurz zuvor ewige Treue geschworen hatte.

Als er das Morden nicht mehr aushielt, desertierte Patrice, landete schließlich in der ostkongolesischen Stadt Butembo in einem World Vision-Resozialisierungsprojekt. Dort lernte er, Schuhe herzustellen und zu reparieren. Mit einem Startkapital der Hilfsorganisation eröffnete er anschließend eine kleine Werkstatt an der Hauptstraße. Hier zeigt er jetzt anderen Jugendlichen, was er während seiner eineinhalbjährigen Schusterlehre gelernt hat. „Ich konnte damals nichts und wusste nicht, wie ich überleben sollte. Deshalb bin ich zu den Mai-Mai gegangen. Aber wenn die Kinder etwas lernen, schließen sie sich hoffentlich nicht den vielen bewaffneten Gruppen an“, sagt Patrice in seiner Werkstatt.

Gequält von den schrecklichen Verbrechen, die er selbst beging und deren Opfer er wurde, wacht er nachts oft schweißgebadet auf und muss weinen. Der Jugendliche, dem Waffen die Kindheit raubten: „Bei den Rebellen und bei der Armee durfte ich nie weinen. Vielleicht muss jetzt alles raus.“

* Name geändert