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„Ich bin arm“

Zwei Hartz-IV Empfängerinnen in Pirna finden die Äußerung des Politikers Jens Spahn zum Thema Armut herablassend und unfair.

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© Daniel Schäfer

Von Mareike Huisinga

Pirna. Freitagnachmittag. In der Ausgabestelle der Pirnaer Tafel in der Altstadt reicht Andrea Steinhäuser der Tafelkundin Silke Heidrich Äpfel, Eier, Joghurt und Brot. Obwohl beide Frauen auf unterschiedlichen Seiten des großen Tisches stehen, haben sie eines gemeinsam: Beide leben von Hartz IV-Bezügen. Die Aussage von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist für Andrea Steinhäuser nicht nachvollziehbar. Der CDU-Politiker hatte Anfang März gesagt, dass Hartz IV nicht Armut bedeute, sondern die Antwort einer Solidargemeinschaft auf Armut sei. Mit dieser Äußerung löste er Empörung aus. Kritiker werfen ihm vor, das Armutsproblem in Deutschland herunterzuspielen.

„Ich bin arm, das sage ich ganz deutlich“, betont Andrea Steinhäuser aus Pirna. Sie empfindet die Aussage des Politikers als Hohn und hat keine Scheu in der Zeitung offen über ihre Situation zu reden.

Nach der politischen Wende wurde die gelernte Wirtschaftshilfe arbeitslos. Davor war sie unter anderem im Krankenhaus Zittau sowie in der Gastronomie tätig. In den 1990er-Jahren schrieb sie unzählige Bewerbungen, ohne Erfolg. Sie fand zwischendurch Beschäftigung in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und half auch zeitweilig in einem Döner-Laden aus. Seit 1993 bezieht sie Arbeitslosengeld beziehungsweise Hartz IV. Auch ihr Mann erhält Arbeitslosengeld II. Nach Abzug aller Fixkosten bleibt dem Ehepaar im Monat rund 650 Euro zum Leben.

Und das auch nur, weil Andrea Steinhäuser noch zweimal in der Woche putzt und weil ihre Hilfe bei der Pirnaer Tafel vom Jobcenter gefördert wird.

Andrea Steinhäuser will nicht falsch verstanden werden. „Ich muss nicht hungern, aber ich habe keine Lebensqualität.“ Ein Besuch im Café ist nicht drin. Oft bleibt sie vor den Schaufenstern stehen und guckt sich die Auslagen an. Kaufen kann sie den Pullover oder die Hose nicht. Manchmal bekommt sie abgelegte Kleidung von Freunden. Oft wird sie in der Kleiderkammer des Familienzentrums am Tischerplatz fündig. „Ich schäme mich dafür nicht“, sagt die 49-Jährige. Wegen einer Schilddrüsenkrankheit muss sie nach Dresden in die Uniklinik fahren. Sie versucht, den Termin möglichst auf Anfang des Monats zu legen. Dann ist noch Geld für die Fahrkarte da, sagt sie. Geld für eine Fahrkarte nach Zittau, um ihre erwachsene Tochter zu besuchen, bleibt in der Regel nicht über.

Kein Ausweg aus dem Hamsterrad

Urlaub ist ein Fremdwort für sie. „Wir sind schon froh, wenn wir im Sommer mit unseren Enkeln zum Baden fahren können“, erklärt die Pirnaerin, die sich am Rande der Gesellschaft fühlt. „Warum sollte ich noch zum Stadtfest in Pirna gehen, wenn ich mich nicht mal hinsetzen und mir einen Kaffee bestellen kann?“, fragt sie. Am gesellschaftlichen Leben kann sie nicht teilhaben, dazu fehlt das Geld.

Nach ihren Perspektiven gefragt, lächelt Andrea Steinhäuser nur müde. „Mit Hartz IV hat man keine Träume.“ Bei diesen Worten umfasst sie ihre Kaffeetasse etwas fester, überlegt einen Moment und sagt dann: „Ich möchte nicht so leben, sehe aber auch keinen Ausweg. Ich komme mir vor wie im Hamsterrad.“

Dieses Gefühl kennt auch Silke Heidrich aus Lohmen. Aus gesundheitlichen Gründen ist sie arbeitslos und lebt seit Mai 2014 von Hartz IV. Im Monat muss sie mit rund 300 Euro auskommen. Sie hat weder einen Partner noch Kinder und wohnt bei ihrer Mutter. Auch sie zählt ihr Geld akribisch und hat am Monatsende immer Angst, ob noch genug für Lebensmittel übrig bleibt. Deshalb ist sie auf die Hilfe der Tafel angewiesen.

Silke Heidrich fühlt sich vom Staat im Stich gelassen. Sie plädiert für die Einrichtung eines gesetzlichen Sozialfonds, der aus Steuermitteln gespeist wird, sodass Menschen wie sie nicht mehr in Armut leben müssten. „Hartz IV ist für mich eine Bestrafung für die Arbeitslosigkeit, an der ich nicht schuld bin“, urteilt die 49-Jährige.

In der DDR hätte sie ein besseres Leben geführt. „Heute bin ich arm und sage, dass man im Staat arm gemacht wird“, lautet ihre Meinung. Ihr einziger Ausweg aus Hartz IV: Sie hofft, dass sie bald eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommt. Den Antrag hat sie bereits gestellt.