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Holz im Herzen

Sigurd Wolf ist Rabenaus ältester Stuhlbauer. Ein Handwerk, das der Spechtritzer liebt und nicht aufgeben will.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Verena Schulenburg

Rabenau. Die Maschine kommt in Schwung. Blitzschnell dreht sich der Rohling in der Fassung. Sigurd Wolf bindet sich seine blaue Schürze um und setzt den Drechselmeißel ans Holz, einmal links, einmal rechts. Späne fliegen durch die Luft. Seine Handgriffe wirken spontan. Das Ergebnis beweist aber das Gegenteil: Ein hübscher runder Schneemannkopf guckt von der Drechselbank herauf. In seiner Werkstatt, hier in Spechtritz, einem kleinen Ortsteil der Stadt Rabenau, macht dem 78-Jährigen keiner was vor. Sigurd Wolf ist Stuhlbauer durch und durch, hat den Beruf von der Pike auf gelernt. Auch heute noch steht der gebürtige Spechtritzer in seiner Werkstatt. „Eigentlich jeden Tag“, sagt er.

An der Drechselbank entsteht der Kopf eines Räucherschneemannes. Der Rumpf wird separat hergestellt und schließlich als kompletter Rohling zusammengesteckt.
An der Drechselbank entsteht der Kopf eines Räucherschneemannes. Der Rumpf wird separat hergestellt und schließlich als kompletter Rohling zusammengesteckt. © Karl-Ludwig Oberthür

Im Januar wird er 79. Sich dann in die Ecke setzen, nur noch Zeitung lesen und spazieren gehen, kommt für ihn nicht infrage. „Das wäre das Schlimmste für mich. Ich bin doch froh, dass ich noch arbeiten kann“, sagt der sympathische Senior und schmunzelt: „Wissen Sie, ich bin doch erst Jungrentner von 13 Jahren.“ Sigurd Wolf liebt seinen Beruf, er liebt sein Handwerk. Heutzutage, erzählt er, würden die Stuhlbauer gern mal zu Tischlern erklärt. Das seien sie aber keinesfalls. „Stuhlbauer sind Stuhlbauer“, sagt er. So wie Pfefferküchler eben auch keine Bäcker seien. Der Stuhlbau ist zwar sein Handwerk. Stühle allein werden in seiner Spechtritzer Werkstatt aber schon längst nicht mehr hergestellt. Seit den 1970er-Jahren stehen auch Nussknacker, Räuchermänner, Kerzenständer und Osterhasen in dem kleinen Verkaufslädchen, gedrechselt und gehobelt in der eigenen Werkstatt – und sogar selbst bemalt. Das ruhige Händchen dazu hat seine Frau. „Das macht sie schon seit Jahren ganz prima“, sagt Sigurd Wolf. Die Figuren, die der älteste Stuhlbauer der Stadt gedrechselt hat, entstehen aber nur beiläufig. Schon des Öfteren habe es Anfragen von größeren Händlern gegeben, die Wolf’sche Handwerksarbeit aus Spechtritz zu verkaufen. Doch zum Spottpreis mag er den königlichen Nussknacker oder die räuchernde Kloßfrau nicht abgeben. Das hat man nicht nötig. Sein Handwerk bleibt der Stuhlbau.

Es ist ein Handwerk, das sein Vater mit dem Betrieb am Spechtritzer Wohnsitz aufbaute und das Sigurd Wolf schon als 22-Jähriger übernahm, gerade als er nach der Stuhlbauerlehre in Rabenau seinen Meister in der Tasche hatte – verflixt früh. Sigurd Wolf, der jüngste von drei Kindern, war gerade sieben Jahre alt, als sein Vater Martin Wolf 1945 an Tuberkulose erkrankt aus dem Krieg heimkam und wenige Monate darauf mit nur 44 Jahren verstarb. Der nächste Schicksalsschlag folgte acht Jahre später mit dem Tod seiner Mutter Dora. Mit nicht einmal 15 Jahren stand Sigurd Wolf ohne Eltern da.

Dass er sein Leben in die Hand genommen hat, den Beruf seines Vaters fortführte, verdankt er seinem Großvater, wie er selbst sagt. Hugo Wolf, eigentlich ein Landwirt, hatte wohl auch ein Herz fürs Holzhandwerk. „Er hat uns Kindern Laubsägearbeiten beigebracht und uns unsere Schlitten gebaut“, erinnert sich Sigurd Wolf. Sein Großvater habe ihm alles beigebracht, er sei seine Inspiration gewesen – für ein anspruchsvolles Handwerk.

„Der Stuhlbauerberuf ist schon sehr aufwendig“, sagt Sigurd Wolf, „das Holz muss rangeholt und etwas daraus gemacht werden.“ Nur die Zeiten haben sich geändert. Das Material ist teurer geworden, die Konkurrenz im Möbelgeschäft gewachsen. Die Stuhlbauer aber bleiben bei ihrem Qualitätshandwerk, so wie sie es seit Jahrzehnten handhaben. Das Geschäft lief nicht schlecht, als Sigurd Wolf 1960 den elterlichen Betrieb übernahm. Die Wolf’schen Stühle wurden zu DDR-Zeiten in die Schweiz, nach Österreich, die damalige Sowjetunion, auch nach Westdeutschland geliefert, erzählt der Senior.

Etliche historische Bauwerke schmücken noch heute ihr Innerstes mit den Sitzgelegenheiten aus Spechtritz: Der Rittersaal und die Schlosskapelle der Burg Mildenstein im Landkreis Mittelsachsen beispielsweise, die Dresdner Kreuzkirche, sogar die Frauenkirche in Dresden. Natürlich finden sich die Wolf’schen Fußspuren auch in Spechtritz: Erst im Sommer wurde im Ort ein neuer Holzspielplatz für Kinder eingeweiht, der von einigen Spechtritzern selbst gestaltet wurde und auch den Fingerabdruck der Familie Wolf trägt.

Sigurd Wolf ist längst nicht allein auf seinem Hof in Spechtritz tätig. Es sind schon „vier Wölfe“, die hier ihrer Arbeit nachgehen. Sein Sohn Carsten Wolf, der sich auch am Spechtritzer Spielplatz zu schaffen machte, hat hier seine Tief- und Wegebau-Firma. Und auch zwei der insgesamt vier Enkel haben hier ihren Platz gefunden: Neben dem Kfz-Service seines Enkels Sebastian, ist auch der Möbelbau von Martin Wolf auf dem Spechtritzer Berg zu finden. Für den 78-Jährigen ein glücklicher Umstand. „Ich bin so froh, meine Familie hier zu haben“, sagt er und vor allem glücklich darüber, auch sein Handwerk in Zukunft in tüchtigen Händen zu wissen.