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Hin- und hergerissen

Olympiasieger Tim Grohmann ist in Rio nur als Ersatzmann dabei – und nimmt die undankbare Rolle an.

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© Robert Michael

Von Jochen Mayer und Tino Meyer

Er ist fast immer dabei, wenn jetzt Rio nachgefeiert wird. Tim Grohmann vergisst kaum einer, wenn den Ruder-Olympiasiegern aus dem Doppelvierer auf die Schultern geklopft wird, wenn die Gläser klingen, wenn die Lobeshymnen anheben. Und doch wirkt der Schlagmann aus dem Londoner Goldboot von 2012 jetzt fast verlegen, wenn die Rede auf seine besondere Rolle kommt. Richtig wohl ist ihm nicht dabei, dem Rio-Ersatzmann, der einer der tragischen Helden dieses Jahres ist.

Er fühlt sich momentan ein wenig „wie das fünfte Rad am Wagen“. Dabei saß er zum Saisonanfang schon im Doppelvierer, der mit klarer Medaillenmission zu den Rio-Spielen fahren sollte. Sportlich hatte sich Grohmann qualifiziert, obwohl ihm ein vereiterter Backenzahn im Vorjahr die Nominierung vermasselt hatte. Danach war ihm klar: „Rio wird schwierig. Wer in der vorolympischen Saison nicht im Boot sitzt, kommt ganz schwer bei den Spielen rein. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz.“ Zudem war der Vierer ohne Grohmann Weltmeister geworden.

Wenigstens als Ersatzmann wollte es der Pesterwitzer nach Rio schaffen. Er trat beim Studium kürzer, tat alles für die Olympia-Chance, gehörte bei den Verbandstrainingslagern wieder zum Kaderkreis. „Ich wollte meine Mini-Chance nutzen“, lautete sein Ziel und nach den internen Olympia-Qualifikationsrunden saß er überraschend für viele im Boot. Weltmeister Hans Gruhne lag dagegen weit davon entfernt auf Position 24 in der internen Rangliste. „Übertrainiert“, hieß die Entschuldigung für den Potsdamer.

Rätselhafte Boots-Harmonie

Grohmann durfte sich aber nie sicher sein. Immer saß im Hinterkopf, dass „die Weltmeister-Besatzung von 2015 das eigentlich von den Verbandstrainern gewünschte Rio-Team“ ist. Die Resultate zum Saisonanfang passten auch nicht, die EM blieb medaillenlos, dem Boot fehlte die Harmonie. Selbst Experten rätseln immer wieder aufs Neue, welche Winzigkeiten dafür passen müssen. „Es geht um kleinste Rädchen, die ineinandergreifen müssen, um Technik, um punktgenaues Zusammenspiel, um menschliche Seiten“, weiß Grohmann. „Jeder hat im Boot natürlich auf sich geachtet, aber das war noch kein optimales Zusammenspiel. Keiner war mit dem Saisoneinstieg zufrieden.“

Und sie haben sich verändert, die Olympiasieger von 2012. „In London passte alles wunderbar zusammen mit uns“, schwärmt Grohmann. „Aber wie in jeder Beziehung nutzt man sich ab, jeder entwickelt sich weiter, auch mit den Erfolgen. Das passt jetzt immer noch gut zusammen im Boot, aber eben nicht mehr so ideal wie vor vier Jahren.“ Und alle spürten wohl, dass die endgültige Personal-Entscheidung über die Rio-Besetzung noch nicht gefallen war.

Der Doppelvierer lief einfach nicht rund. Es musste etwas passieren, darin waren sich alle einig. Es kam zur Ausbootung von Tim Grohmann, der für Weltmeister Gruhne den Rollsitz räumen musste. Diese Vier hatten schließlich 2015 schon mal funktioniert, WM-Gold zusammen gewonnen. „Es ist immer eine Trainer- und Bauchentscheidung über so eine Bootsbesatzung“, weiß Grohmann. „Man kann es selbst nicht ändern, ist den Trainern ausgeliefert.“ So ist Leistungssport. Und doch traf es ihn hart. Enttäuscht sah er zu, wie das Boot plötzlich an Harmonie gewann. Er trainierte immer mit, saß praktisch im Einer nebenan, wenn die anderen zu viert loszogen oder ewig diskutierten. Grohmann wollte es allen zeigen, dass er auch in das Boot gehört hätte. Und ein Rest Hoffnung war ihm auch noch geblieben, für den Fall der Fälle zur Stelle zu sein, wenn ein anderer ausgefallen wäre.

Die undankbare Rolle als Ersatz und Springer, der mal ins Boot kam, wenn einer ein Training weglassen musste, nahm der Sportstudent an. Und doch fühlte er sich fehl am Platze, als es in Rio ernst wurde. Der 27-Jährige reichte am Bootssteg seinen Kumpels die Getränke.

Alleine mit den Gedanken

Wenn das Wetter noch einen Tag länger schlecht gewesen wäre, hätte er als Co-Kommentator die TV-Bilder vom Finale besprechen können. Das hätte ihm gefallen, weil er dann nicht mit seinen Gedanken alleine gewesen wäre. Von außen wusste er genau, wie es seinen Kollegen im Schlussspurt ging, wie sie mit letzter Kraft dem Finish der Australier trotzten. Grohmanns Puls ging mit in die Höhe, die Gefühle übermannten auch ihn. Und doch war es anders als beim Londoner Sieg. Trotzdem sagt er: „Ich freue mich für sie.“

Jetzt wird von den Olympiasiegern gelobt, wie tapfer Tim Grohmann seine Rolle annahm. Er ist dann hin- und hergerissen. Wenn die Worte nicht kommen würden, würde er sich ärgern. Wenn sie fallen, dann muss er sehen, dass die Emotionen nicht verrücktspielen, er sich im Griff hat. Der zweite Olympiasieg war so greifbar – und doch so weit weg. Ein Ruderschicksal.

Aufhören ist kein Thema. Und doch macht sich der gebürtige Dresdner, der für den SC DHfK Leipzig startet, Gedanken um die Zukunft. Nächstes Jahr lockt die WM in Florida. Und den Trainerschein will er an der Bundeswehr-Akademie noch machen, zusätzlich zum Masters-Abschluss in Leipzig. Er möchte vorbereitet sein für die Zeit nach der Ruder-Karriere. Kraftakte wie Marathons, extreme Bergläufe oder ellenlange Ruderbootspartien wie nach London hat er jetzt nicht im Plan. Die Klubmeisterschaften im Golf stehen an.