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Hilflos am Straßenrand

Eine Frau aus Großröhrsdorf steht Todesängste aus, bis sich endlich jemand um sie kümmert. Experten sagen: Unterlassene Hilfe ist strafbar.

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Von Reiner Hanke

Es war wie ein Albtraum für die Seniorin aus Großröhrsdorf: ihr Sturz an der Straße und die Minuten danach. Minuten wie eine Ewigkeit. Vor allem die Verletzungen im Gesicht erinnern sie täglich daran. Fast noch schlimmer ist eine andere Erfahrung: „Es ist die Gleichgültigkeit vieler Menschen“, sagt Frau Schöne. Dabei geht es um einen eklatanten Fall von unterlassener Hilfeleistung. Genau deshalb wollen sie und ihre Kinder an die Öffentlichkeit gehen. Die 76-Jährige war an jenem verhängnisvollen Vormittag zum Einkaufen an der Klinke in Bretnig-Hauswalde unterwegs und berichtet: „Auf dem Fußweg zum Lebensmittelmarkt an der Pulsnitzer Straße blieb ich mit dem Fuß an einer Unebenheit hängen.“ Dann sei sie hart auf den Fußweg gestürzt. Knie und Hände waren aufgeschlagen, aber am schlimmsten „war eine tiefe Wunde im Gesicht an der Nasenwurzel“. Das Blut lief in Strömen übers Gesicht.

So lag die alte Dame neben der Hauptstraße: „Ich war nicht in der Lage, mich zu bewegen.“ Ein Auto nach dem anderen rauschte vorbei, ohne anzuhalten: „Obwohl ich gut sichtbar dalag am helllichten Tag. Ich wollte einen Arm heben, aber es war mir nicht möglich.“ Todesangst habe sie gelitten. Endlich hielt offenbar doch noch eine Kraftfahrerin. Nach vielleicht gut zehn Minuten. Die Frau habe sie angesprochen. Eine zweite Helferin habe dann einen Stuhl aus einem Geschäft in der Nähe geholt. „Beide kümmerten sich sehr lieb um mich, obwohl die Blutung kaum zu stillen war. Ich wurde zu Dr. Ute Weigel gefahren.“ Die Ärztin versorgte die Wunden fachgerecht. Die hilfsbereite Kraftfahrerin holte Frau Schöne dann sogar wieder in der Arztpraxis ab.

Über Herzlosigkeit schockiert

Mit Verbänden und Pflastern brachte sie die Seniorin zu ihren Kindern, Randi und Thomas Schöne. Sie waren nicht nur schockiert über den Unfall der Mutter, sondern auch über die Herzlosigkeit etlicher Kraftfahrer. Jens Schlicht schult für die Kreisverkehrswacht Kraftfahrer und ist zugleich Polizeioberkommissar. Leider ist für ihn ein solches rücksichtsloses Verhalten kein Einzelfall. Er nennt mehrere Gründe dafür: Unwissenheit, Ignoranz und eine gewisse Zurückhaltung. Dabei spiele die Sorge mit, etwas falsch zu machen, vielleicht noch mehr Schaden zu verursachen. Verständnis hat er für keinen der Gründe. Denn es geht um Menschenleben. Leider sei das Verhalten keine Seltenheit. Das habe ein Test ergeben. Dabei wurde ein Unfall simuliert. Das Ergebnis sei erschreckend gewesen, so Schlicht. Etwa sieben Autos seien achtlos vorbeigefahren, bevor ein Wagen hielt. „Deshalb sprechen wir das Thema immer wieder in den Verkehrsschulungen an.“ Fast jeder habe ein Telefon, sagt Jens Schlicht. Es sei das Mindeste anzuhalten, die Situation zu prüfen, die Unfallstelle abzusichern und Hilfe zu holen, damit die Rettungskette steht.

Nachweis ist schwierig

Der Kamenzer Fachanwalt für Verkehrsrecht, Sven Biebrach, stellt klar: „Unterlassene Hilfeleistung ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Straftatbestand.“ Wenn er nachgewiesen werden kann und ein vorsätzliches Verhalten vorliege. Der Nachweis sei allerdings oft schwierig. Bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe kann die Konsequenz sein. Denn eine jede Person sei verpflichtet, zu helfen. Voraussetzung ist eine Notlage. Gerade in dem geschilderten Fall gebe es da keinen Zweifel. Auch der Anwalt hat kein Verständnis für die Ignoranz: „Jeder hat doch mit dem Führerschein bereits einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert.“ Manchmal sei es schon hilfreich, den Verletzten zuzudecken, damit er nicht auskühlt, bis professionelle Hilfe anrücke. Sven Biebrach kann auch Sorgen zerstreuen: „Die Helfer sind automatisch gegen Folgeschäden abgesichert.“ Mancher fürchte vielleicht Scherereien mit Zeugenaussagen oder Gerichtsterminen und gucke deshalb weg. Der Anwalt rät: Der Polizei könne man auch schriftlich seine Angaben zuleiten. Und für Zeugen vor Gericht gebe es eine finanzielle Entschädigung. So appelliert der Anwalt: „Denken Sie an das Leid der anderen Menschen und helfen Sie. Sie können Leben retten, anderen große Qualen ersparen, Qualen, wie sie die Seniorin erdulden musste.“

Und traumatische Erinnerungen. Die werden Frau Schöne noch begleiten. Eine Narbe im Gesicht werde bleiben, sagt sie. Schlimmer noch als die Schmerzen und die Narbe im Gesicht seien die auf der Seele: Die hinterließ das „Geräusch der vorbeifahrenden Autos, verbunden mit dem Gefühl der totalen Hilflosigkeit“. Umso dankbarer sei sie den beiden Retterinnen.