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Herbert öffnet Herzen

Als Seelsorger am Uniklinikum kümmert sich Michael Leonhardi auch um die kleinsten Patienten. Doch er hat Hilfe.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Dresden. Sie sind Leidensgenossen. Beide haben sie ein Aua am Kopf. Bei Lucy wurden die Haare abrasiert. Die Narben von den Operationen sind zu sehen. Eines ihrer Augen ist zugeklebt. Herbert hat seine Haare noch, trägt aber einen Verband um den Kopf. Seit er vor wenigen Minuten in ihr Zimmer in der Kinderchirurgie im Haus 21 der Uniklinik gekommen ist, hat Herbert, die freche Handpuppe, Lucys Herz im Sturm erobert. Michael Leonhardi hat ihn in einem Koffer mitgebracht. Darin schnarchte er gerade noch laut vor sich hin. „Raus aus den Federn, du alter Morgenmuffel!“, ruft Lucy laut und quiekt vor Lachen, während sie auf ihrem Bett sitzt. Für einen Moment vergisst die Sechsjährige, dass das hier kein Ort ist, an dem normalerweise sonderlich viel gelacht wird.

Genau das wollte Michael Leonhardi erreichen. Der 59-jährige Pfarrer ist einer von vier Klinikseelsorgern hier. Er vertritt die evangelische Seite und ist häufig dann gefragt, wenn die jüngsten Patienten jemanden an ihrer Seite brauchen. Seit sieben Jahren hat der frühere Dorf- und Studentenpfarrer das Amt inne. Sein wunderbar helles Büro mit den bodentiefen Fenstern und dem Regenbogen an der Wand hat er sich im Haus 50 eingerichtet, einem erst vor 15 Jahren eingeweihten architektonischen Kleinod mit einem Andachtsraum im Herzen. Hier hält Leonhardi auch regelmäßig sonntags seine Gottesdienste, bei denen Tochter Franziska Orgel spielt.

Die Woche über widmet sich der Pfarrer der Seelsorge, besucht Patienten, die nach ihm gerufen haben, geht aber auch von sich aus auf vielen Stationen von Tür zu Tür und schaut, wo er helfen kann. Nachts wechselt er sich mit seinen Kollegen in der Rufbereitschaft ab. „Viele denken immer noch, Seelsorger würden nur kommen, wenn Christen sterben.“ Dabei stecken viel mehr Möglichkeiten und viel mehr Sinn hinter dieser Arbeit.

Auch Herbert ist Seelsorge. Bei seinem Abschied als Studentenpfarrer bekam Leonhardi die Puppe mit den strubbeligen Haaren, der Knollennase und dem großen Mund von den Studenten geschenkt. Ihn in seinem neuen Job als Eisbrecher einzusetzen, lag fast auf der Hand. „Bei Kindern braucht man einen anderen Zugang“, sagt er. Da könne man sich schlecht als „Herr Leonhardi“ vorstellen, mit dem sie jetzt doch bitte ihre Sorgen teilen könnten. Kinder in der Klinik sind erst einmal Kinder und erst dann Patienten. Wenn er seinen Herbert aus dem Koffer hole, dann sei die Verbindung oft schnell da. Manchmal stellen ihm Kinder Fragen wie: „Was habe ich denn Böses gemacht, dass ich diese Krankheit bekommen musste?“ Manchmal, wenn der Pfarrer keine Antwort mehr weiß, kann nur noch die Puppe helfen.

Herbert hat eine tiefere Stimme als Leonhardi, ist übermäßig frech und sagt immer, was ihm gerade in den Sinn kommt. „Insofern lege ich vielleicht auch das in die Puppe rein, was ich selbst nicht sein kann.“ Bei den kleinen Patienten kommt das in der Regel prächtig an. Längst ist Herbert so was wie ein Star in der Uniklinik, was nicht zuletzt an den Plakaten von ihm liegt, die auf vielen Stationen aushängen.

„Seelsorge ist ja eher stille Arbeit“, sagt der Pfarrer, und doch müssten die Patienten zumindest wissen, dass es sie gibt und dass jeder sie in Anspruch nehmen kann, ganz gleich, welche Weltanschauung er vertritt. Auch Herbert kommt nicht mit der Bibel in der Hand um die Ecke. „Ich möchte die Kinder dort abholen, wo sie sind.“ Wenn sie keinen Zugang zu Gott hätten, dann bleibe dieses Thema außen vor. Nur ein kleines gerahmtes Bild von Jesus klebt in Herberts Kofferdeckel und konkurriert um Aufmerksamkeit mit einem grünen Frosch-Waschlappen, einer Taschenlampe, einem Kaleidoskop, einem Mini-Wecker und allerlei sonstigem Spielzeug.

Und warum überhaupt der Koffer? „Herbert braucht einen Rückzugsort“, sagt Leonhardi. Wenn es die Situation erfordert, müsse die Puppe auch ganz schnell verschwinden können. Oft informiert er
sich vor seinem Termin gar nicht, was den Kindern überhaupt fehlt. Im Zimmer kann er dann schon mal auf Kinder wie Paul treffen, der ihn jüngst mit verschränkten Armen begrüßte und sagte: „Ich bin Paul, und ich kann Clowns und Puppen nicht leiden.“ Rumms, und schon war Herbert zurück
im Koffer.

In anderen Fällen würde der Seelsorger selbst nie darauf kommen, seine Puppe ins Spiel zu bringen. Bei Segnungen zum Beispiel oder dann, wenn es wirklich keinen Platz für Frohsinn gibt. Vor etwa einem Jahr wurde er an das Bett eines kleinen Jungen gerufen, der nach einem Unfall keine Chance mehr aufs Überleben hatte. „Die Eltern wollten ihn trotzdem noch taufen lassen“, erinnert sich Leonhardi.

Die Emotionen auf Arbeit lassen

In solchen Momenten sei er froh, Christ zu sein und für sich zu wissen, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende sei. Er zünde dann manchmal in seiner Kapelle eine Kerze an und spreche noch ein Gebet. Nach Feierabend zieht er sich immer erst andere Sachen an, bevor er sich auf den Weg nach Hause nach Radebeul macht. Er muss die Geschichten und Emotionen auf Arbeit lassen, damit er am nächsten Tag wieder helfen kann. Auch nach einem Tag auf der Krebsstation muss er zu Hause glücklich sein oder unbeschwert ins Kino gehen dürfen. „Sehr gern fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit und nach Hause. Etwa an der Brücke in Pieschen kann ich auf privat umschalten.“ Gemeinsam mit seiner Frau hat Michael Leonhardi fünf erwachsene Kinder. Vor wenigen Wochen kam der fünfte Enkel zur Welt.

Einer ist gerade so alt wie Lucy, die vermutlich in wenigen Tagen die Kinderchirurgie verlassen darf. Bis dahin will die Sechsjährige aber auf jeden Fall noch einmal Herbert wiedersehen. „Was isst du denn am liebsten“, fragt sie ihn noch, bevor er wieder im Koffer verschwindet. „Zehn Bratwürste“, brummt er. Seelsorge ist eben keine Ernährungsberatung.