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„Helden sterben nicht“

Tausende Menschen nehmen in Moskau Abschied von dem ermordeten Kremlkritiker Boris Nemzow.

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© Reuters

Von Ulf Mauder, Moskau

Wie um einen Helden weinen die Menschen an diesem tieftraurigen Tag in Moskau um Boris Nemzow. „Helden sterben nicht“, rufen sie zum Abschied für den erschossenen Oppositionspolitiker. Zu Tausenden sind sie gekommen, stehen stundenlang bei leichtem Schneefall Schlange, viele mit Rosen in den Händen und Tränen im Gesicht. Sie nehmen Abschied von dem wohl charismatischsten Gegner von Kremlchef Wladimir Putin; am Freitagabend kaltblütig ermordet mit vier Schüssen in den Rücken.

Am offenen Sarg, aufgebahrt im Sacharow-Menschenrechtszentrum, verneigen sich Moskauer Bürger, viele Prominente, Politiker und Diplomaten. Dina Ejdman, Nemzows Mutter, wacht am Leichnam ihres Sohnes. Viele Trauernde zittern vor Schmerz, als sie das Gesicht des Regierungskritikers noch einmal sehen. Kränze und Blumen füllen die Halle mit den Ziegelwänden. Überall hängen Fotos von Nemzow, dem früheren Gouverneur von Nischni Nowgorod und einstigen Vizepremier. Auch Naina Jelzina, die Witwe des früheren Präsidenten, ist gekommen. Ihr Mann Boris hatte den Politiker in den 1990er-Jahren in die Regierung geholt.

An jene Jahre erinnert sich auch der SPD-Politiker Gernot Erler. „Es ist ein schwerer Abschied“, sagt der Russland-Beauftragte der Bundesregierung. Der kritische, aufrechte Nemzow, ein Kämpfer für Demokratie und Freiheit, fehle nun als gewichtige Stimme in Russland.

Auch wenn an diesem Tag die Trauer überwiegt – die Gegner Putins betonen es auch beim Abschiednehmen: Sie machen den Ex-Geheimdienstchef für die Bluttat verantwortlich. Eiskalte Profis, vermutlich von Geheimdiensten geführt, hätten die vier tödlichen Schüsse in der Nacht zum Samstag abgefeuert, sagt Nemzows Weggefährte Ilja Jaschin. Er vermutet, der Machtapparat habe verhindern wollen, dass Nemzows Recherchen zum Krieg in der Ostukraine und dem Einsatz russischer Soldaten dort öffentlich werden. Dass unmittelbar nach dem Mord Nemzows Wohnung und das Abgeordnetenbüro in Jaroslawl durchsucht worden seien, sieht Jaschin als Beleg für seine These.

Doch über ein mögliches Tatmotiv kursieren auch in Oppositionskreisen unterschiedliche Versionen. Der Politiker Wladimir Milow vermutet, dass die Geheimdienste den Ukraine-Freund Nemzow aus dem Weg räumten, weil er im Westen als einflussreicher Lobbyist für Sanktionen gegen Russland auftrat. Die im Zuge des Ukraine-Konflikts verhängten Strafmaßnahmen setzen Russlands Wirtschaft immer stärker zu.

Staatspräsident Wladimir Putin und Regierungschef Dmitri Medwedjew bleiben der Trauerfeier fern. Doch sie schicken Vertreter. Ranghohe Staatsbeamte bringen zudem Blumen und Kränze, bevor der Sarg vom Sacharow-Zentrum zum Prominentenfriedhof Trojekurowo gebracht wird.

Und auch an diesem Tag wird deutlich, wie schwierig die Lage im größten Land der Erde ist. Die russischen Behörden verweigern einzelnen Trauergästen aus EU-Staaten die Einreise. Ein Gericht lässt den unter Arrest stehenden Oppositionsführer Alexej Nawalny nicht einmal stundenweise frei für den Abschied von Nemzow.

Und auch weit entfernt vom Gedenken im Sacharow-Zentrum entlädt sich wieder Hass. In den Medien hetzen Ultranationalisten: Der Westen stecke wohl hinter Nemzows Mord, weil ihm ein „toter Revolutionär“ in der aufgeheizten Lage nützlicher sei als ein lebender. Die Fotos mit dem Leichnam und der Kremlkulisse, ätzt etwa Nikolai Starikow von der Partei „Großes Vaterland“, seien für die Medien im Westen die beste Inszenierung gewesen.