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Heimatgefühle im Supermarkt

In Gorbitz gibt es Pelmeni, Stockfisch und russisches Konfekt. Wer hier einkauft, sucht nicht nur die Kulinarik aus den Weiten des Ostens.

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© Sven Ellger

Von Annechristin Bonß

Wenn Polina in den Supermarkt geht, dann reist sie in ihre Heimat. Die ist Tausende Kilometer weit entfernt, im fernen Russland. Und trotzdem fühlt sich die kleine, schüchterne Frau mit dem runden Gesicht hier im Kess-Center am Rand von Gorbitz wie zu Hause. „Dobry den“, grüßt Ludmila Brehm von der Kasse. „Guten Tag“ auf Russisch. Wie zu Hause. Syr steht auf der Käsepackung, Smetana auf der Schmanddose, Pelmeni gibt es hier gleich in mehreren Kühlboxen. Zehn Meter lang ist die Reihe an Truhen mit unterschiedlichen Arten der beliebten Teigware. Mit Rind, Rind und Schwein, Rind und Pute, nur mit Pute, handgemacht oder maschinell gefertigt, in kleinerer Größe nur für Kinder – die Vielfalt ist riesig. Klar, es geht schließlich um eins von Russlands Kultgerichten. Das darf in einem russischen Lebensmittelmarkt natürlich nicht fehlen.

Davon gibt es drei in Dresden. Der in der Johannstadt an der Pfotenhauerstraße feierte im vergangenen Jahr sein zehnjähriges Bestehen. Die russische Gemeinschaft der Spätaussiedler und Dazugezogenen aus Russland ist besonders groß in dem Stadtteil im Dresdner Osten. Inhaber Arnold Polinski hatte lange aus einem Verkaufsladen heraus verkauft, war damit durch ganz Sachsen zu den Kunden gereist. Seit 21 Jahren lebt er in Deutschland. Mit seiner Mutter und zwei Brüdern zog er von der Schwarzmeerküste nach Sachsen. Der Laden in der Johannstadt entwickelte sich prächtig. Nicht nur aus Dresden kamen die Kunden, sogar aus Chemnitz reisten sie an.

Lebenshilfe zwischen den Regalen

Grund genug zu expandieren. In Gorbitz eröffnete er 2012 die zweite Filiale. Mit 1 000 Quadratmetern ist die fast viermal so groß wie das Geschäft in der Johannstadt. Seit vergangenem Jahr gehört sie zur Kette des Lebensmittelanbieters Mixmarkt. Der Großhändler hat sich auf Lebensmittel aus Russland, Polen, Tschechien und Ungarn spezialisiert und liefert diese zu Standorten deutschlandweit. 5 000 verschiedene Artikel gibt es in der Gorbitzer Filiale.

Dort ist Ludmila Brehm die gute Seele. Die 57-Jährige kam vor 27 Jahren nach Deutschland. Zuvor lebte sie in der Nähe von Moskau. In Dresden fand sie die Liebe, heiratete, jobbte als Verkäuferin. Seit elf Jahren arbeitet sie für Arnold Polinski. Sie sitzt nicht nur an der Kasse. Sie ist Marktleiterin, betreut Praktikanten, kümmert sich um die Kunden, räumt ein, verpackt Geschenke, wenn gewünscht, und hört zu, tröstet, gibt Rat, wenn Stammkunden neben dem Einkauf auch zum Schwatz gekommen sind. Mit den Mitarbeitern und vielen Kunden spricht sie dann russisch, genau wie mit ihrem Chef.

Ihr Arbeitsplatz ist ihr persönliches Stück Heimat. Ein Stück Heimat, in dem es Wodka mit Honig und Chili gibt. Der helfe gut bei Erkältung, sagt Arnold Polinski. Ein Stück Heimat, in dem es nach Fisch riecht. Der liegt trocken geräuchert oder als Stockfisch in der Kühltheke. Die dünn geschnittenen Sticks essen die Russen gern als Snack zum Bier. Ein Stück Heimat, in dem jedes Lebensmittel mit russischer Schrift versehen ist. Ein Stück Heimat, in dem die Sehnsucht aufkommt, nach dem Ort der Kindheit. Weil es hier danach riecht, die Sprache genauso klingt, weil es Dinge gibt, die danach schmecken. Ein Stück Russland mitten im Gorbitzer Plattenwohngebiet, in dem sich nicht nur Russen wohlfühlen.

Viele Anwohner aus dem Wohngebiet kaufen hier ein: Deutsche, Tschechen, selbst die Flüchtlinge aus Afrika, die seit einigen Jahren auch in Gorbitz leben. Wer zum Einkaufen nicht weit laufen will, geht eben in den nächst gelegenen Supermarkt – egal, ob Netto, Lidl oder Mixmarkt an der Tür steht. Neben traditionellen Gerichten gibt es hier natürlich auch Wurst, Käse, Eier, Obst, Brot – wie in jedem anderen Supermarkt auch.

Die Mitarbeiter helfen beim Übersetzen, wenn Kunden die Beschriftung in russischer Sprache nicht lesen können. „Und wir geben Kochrezepte mit“, sagt Ludmila Brehm. Für die Pelmeni zum Beispiel. „Die essen wir nicht nur mit Sahne, sondern auch mit Senf, Meerrettich oder verschiedenen Soßen.“ Die gibt es im Regal nebenan. Wenn es um Kulinarisches aus der Heimat geht, kommt sie ins Schwärmen.

Kochrezepte inklusive

So auch vor dem großen Pralinenregal – ihr Lieblingsplatz im ganzen Markt. Russische Schokolade ist Kult: einzeln verpackt und mit bunten Bildern bedruckt. Mit 140 verschiedenen Arten gibt es in dem Geschäft davon noch mehr, als Pelmenisorten in der Kühltruhe liegen. Die bekanntsten heißen Rotkäppchen, Bärchen oder Russische Nächte. Sie sind wahlweise mit Nüssen, Karamell, Schokolade oder Waffeln.

Raumfahrer Juri Gagarin liebte die Trüffel in grüner Knisterfolie. Die gibt es hier natürlich auch. Genau wie die Pralinen, die es einst nur im berühmten Bolschoi-Theater gab. Ludmila Brehm greift zu einer Variante mit matt-rotem Papier. Die Batontschiki mag sie am liebsten. Die Pralinenabteilung ist ihr ganzer Stolz. Schon bald soll es hier noch mehr Sorten geben. Über 200, das ganze Regal voll, zehn Meter lang.

„Do svidaniya, Polina“, Ludmila Brehm grüßt zum Abschied, streicht der kleinen Frau über die Schulter. Die packt ihren Einkauf in die Tasche, huscht schnell durch die Schiebetür. „Wir sind hier wie eine große Familie“, sagt Ludmila Brehm. Eine Familie, die zum Heimatbesuch im Supermarkt zusammenkommt.