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Heilsame Rückkehr nach Decin

Sudetendeutsche vertrauen ihre Geschichte den Archivaren in der alten Heimat an.

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© Petr Špánek

Von Steffen Neumann

Decin. Wenn sich am Sonnabend die Vertriebenen des früheren Kreises Tetschen-Bodenbach (Decin-Podmokly) zu ihrem Heimattreffen einfinden, wird Hermann Wagner Wehmut überkommen. Denn es wird das letzte Mal sein. „Die Zeit der Heimatverbände geht vorbei. Die Letzten von uns, die sich erinnern können, sind 80 und älter. Und mit jedem Treffen werden wir weniger“, beschreibt Wagner die unausweichliche Realität. Wagner ist der Verantwortliche für das Archiv des Heimatkreises Tetschen-Bodenbach e.V. und hat das Treffen maßgeblich vorbereitet.

Das Archiv der Vertriebenen hält einige Schätze bereit, die es so bisher in Decin nicht gab, wie Fotografien des Bildhauers Fritz Tampe, der Decins Stadtbild maßgeblich prägte.
Das Archiv der Vertriebenen hält einige Schätze bereit, die es so bisher in Decin nicht gab, wie Fotografien des Bildhauers Fritz Tampe, der Decins Stadtbild maßgeblich prägte. © Petr Špánek
Hermann Wagner ist der Verantwortliche des gemeinnützigen Vereins Heimatkreis Tetschen-Bodenbach für das Archiv.
Hermann Wagner ist der Verantwortliche des gemeinnützigen Vereins Heimatkreis Tetschen-Bodenbach für das Archiv. © Steffen Neumann

Heimattreffen sind längst nicht mehr das, was sie seit ihrer Entstehung Ende der 1940er-Jahre waren. Unter dem noch frischen Eindruck der Vertreibung wurden die Treffen von politischen Aufrufen dominiert, die als ungerecht empfundene Abschiebung aus der böhmischen Heimat rückgängig zu machen. Je weiter die Vertreibung zurücklag, überwog das gegenseitige Erinnern an das, was war. „Später fielen die politischen Reden ganz weg. An ihre Stelle trat ein Kulturprogramm mit einer Blaskapelle, die die Lieder der Heimat spielt“, so Wagner.

Angst vor Vernichtung

Die Musikanten werden auch diesmal spielen, erinnert wird auch. Aber sonst wird beinahe alles anders sein als sonst. Schon die Teilnehmerzahlen sind ungewöhnlich. „Zuletzt kamen höchstens 50, diesmal sind 200 angemeldet“, sagt Wagner. Erstmals findet das Treffen nämlich nicht wie bisher im bayerischen Nördlingen statt, sondern in Decin. Und zweitens hat Wagner noch eine Mission zu erfüllen, die ihresgleichen sucht. Am Sonnabend werden das Archiv des Heimatkreises, seine Bibliothek und das Museum offiziell an das staatliche Kreisarchiv Decin übergeben.

Dieser Schritt war nicht unumstritten, wie Herwig Heisler andeutet. Der 77-Jährige verlebte seine Kindheit in Tetschen. Seinem Großvater gehörte das legendäre Gasthaus „Die Hölle“, und sein Vater arbeitete für das „Tetschener Tagblatt“. „Der Schritt, alles nach Decin zu geben, ist Ergebnis einer jahrelangen, teils scharf geführten Debatte“, sagt Heisler. Der Vorstand musste sich Vorwürfe anhören, er würde das „Gedächtnis des Heimatkreises leichtfertig in die Hände der Tschechen geben“. „Für einige waren wir Verräter“, erzählt Wagner. „Einige hatten panische Angst, dass alles vernichtet wird und wir Löcher in die sudetendeutsche Geschichtsschreibung schlagen.“

Wagner kann die scharfen Töne verstehen, obwohl er, Jahrgang 1960, selbst kein Vertriebener ist. Aber in Archiv und Museum wurde nach 1945 mit „viel Herzblut“ alles gesammelt, was half, die Erinnerung an die Heimat wach zu halten. „Wir begannen auch sofort nach 1945 zu dokumentieren, was aus den ehemaligen Tetschenern geworden ist, sodass es heute eine Kontinuität der Geschichte der Heimatvertriebenen gibt.“ Es gehörte also eine gehörige Portion Überzeugungskraft dazu, den mutigen Plan in die Tat umzusetzen. „Ich habe den Zweiflern und Kritikern immer wieder entgegengehalten: Archivare sind keine Vernichter, sondern Bewahrer. Wenn ihnen gelungen ist, die Bestände über die Zeit des Kommunismus zu bringen, werden sie es erst recht heute tun“, sagt Wagner.

Das bestätigt Archivdirektor Jan Nemec. Die Akribie der Heimatvertriebenen ist für die Archivare in Decin ein großer Schatz. „Wir haben ja eher die amtlichen Akten. Aber mit diesem Archiv kommt das menschliche Element in unsere Sammlung. Das hat einen Wert, der sich jetzt noch gar nicht gebührend würdigen lässt.“ Auf ihn und seine Kollegen wartet wohl jahrzehntelange Arbeit, um all das, was sich in Nördlingen angesammelt hat, aufzuarbeiten. Aber das Entscheidende ist, dass die Sammlung nun am richtigen Platz ist. „Wenn jemand nach seinen Vorfahren sucht, wird er nicht in Nördlingen fragen, sondern hier“, sagt Herwig Heisler.

Interesse in Tschechien

Der Umzug ist nicht nur die Reaktion auf die immer kleiner werdende Gemeinde der Heimatvertriebenen. „Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten festgestellt, dass das Interesse an dieser Geschichte in Bayern immer mehr gegen null tendiert“, so Heisler. Umgekehrt ging das Interesse in Tschechien kontinuierlich nach oben, wie Hermann Wagner ergänzt: „Wir bekommen regelmäßig Anfragen von Tschechen, die wissen wollen, wer in ihrem Haus wohnte und was aus ihnen geworden ist. Es wäre von uns unverantwortlich, diesen Menschen ihre Geschichte vorzuenthalten.“

Gleichzeitig wollten Heisler und Wagner ihr Heimatarchiv vor dem Schicksal anderer Heimatstuben bewahren. Schon so manches Archiv ist verschwunden, weil sein Verbleib für die Zeit nach dem Tod der Verantwortlichen nicht geklärt wurde, ganz zu schweigen von privaten Sammlungen, die nicht selten auf dem Müll landen.

Dass ein Archiv Heimatvertriebener aber an den Ort der Vertreibung gelangt, ist einzigartig und hat mit den besonderen Beziehungen des Heimatkreises zum Deciner Archiv zu tun. „Wir waren schon vor 1989 willkommen, und Petr Joza, der heute im Archiv arbeitet, besuchte uns gleich nach der Wende“, erinnert sich Wagner.

Spätestens 2003, als eine neue Generation die Führung im Heimatkreis übernahm, brach das Eis. „Wir waren in dem Jahr zu Besuch in Decin. Und als wir dort mit ,Liebe Landsleute‘ begrüßt wurden, ging das durch Mark und Bein.“ Die Gewissheit zu haben, dass das Archiv nun in diesen sicheren Händen ist, hat sehr zur Entscheidung für den Umzug beigetragen.

Wagner ist überzeugt, dass das Treffen in Decin ein versöhnlicher Abschluss der Geschichte der Vertriebenen wird: „Die Rückkehr kann heilsam sein. Ich habe schon oft erlebt, wie Vertriebene, die sich lange dagegen wehrten, auf einmal mit ihrem Leiden abschließen konnten, nachdem sie noch einmal in der alten Heimat waren.“