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„Heil Hitler, alter Lümmel“

Drei Zeitzeugen aus dem Landkreis erinnern sich an das Ende des Krieges vor genau 72 Jahren – an kleine Freuden und großes Leid.

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© Stadtarchiv Meißen

Von Dominique Bielmeier

Sie waren noch Kinder. Der Älteste von den dreien, Erich Brumm, war damals 15, vielleicht 16 Jahre alt. Er lebte mit seiner Familie in Meißen. Die kleine Ingrid, geboren in Großdobritz, Gemeinde Niederau, war erst sieben. Und Peter Maier, der seit 1967 in Meißen wohnt, war zehn. Er lebte damals in Rehefeld bei Altenberg, erst der Beruf brachte ihn Jahre später in die Domstadt, wo er Verwandte hatte.

Alle drei erlebten die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, wie so viele andere Kinder, am eigenen Leib. Was sie aber von anderen unterscheidet: Sie haben sich diese Erlebnisse irgendwann vom Herzen geschrieben, in Kriegserzählungen, die der SZ vorliegen. In diesen Tagen vor genau 72 Jahren endete der Krieg im Elbland. Die SZ hat aus diesem Anlass noch einmal die Lebenserinnerungen der drei Zeitzeugen geöffnet. Im Folgenden thematisch geordnete Auszüge daraus:

Flucht und Vertreibung

„Auch Flüchtlingstrecks waren da [nach der Bombardierung Dresdens] schon auf den Straßen zu sehen. Auf einigen Bauerngehöften konnten sich die Leute ausruhen und bekamen etwas zu Essen. Es wurde in Waschkesseln gekocht. Viele mussten auch weiterziehen. . . . Meine Mutti konnte noch einen Kinderwagen an die Flüchtlinge abgeben, wir bekamen dafür etwas Pökelfleisch. . . . Dass wir auch mal flüchten müßten, daran hat da noch keiner gedacht.“ (Ingrid Berg)

Die letzten Kriegstage

Die Lage Mitte April: Die Rote Armee ist keine 100 Kilometer vom Elbtal entfernt, aus dem Westen nähern sich die Amerikaner. Die Wehrmacht trifft Vorbereitungen für den Endkampf. Von Pirna bis Torgau wird seit Februar eine Elbeverteidigung aufgebaut. Die Stadt Meißen soll dabei als Ortsstützpunkt des Verteidigungsabschnitts Nord dienen.

15. April: Meißen wird in Verteidigungsbereitschaft versetzt.

22. April: Die Rote Armee erreicht die Elbe.

25. April: Amerikanische und sowjetische Truppen treffen bei Strehla erstmals aufeinander. Von Großenhain aus rücken sowjetische Verbände bis an den Stadtrand Meißens heran, einen Tag später besetzten sie Bohnitzsch. Am 26. April dringen sie bis Deutschenbora vor.

26. April: Als letzte verzweifelte Maßnahme werden die beiden Meißner Elbbrücken gesprengt.

1. Mai: Im Radio wird von Hitlers „heldenhaftem“ Tod berichtet.

5. Mai: Die Wehrmacht verlässt Meißen

6. Mai: Die Rote Armee greift aus Richtung Riesa kommend an.

7. bis 8. Mai: Meißen wird von sowjetischen Truppen geplündert.

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„Ein, zwei Tage nach dieser Nacht [13. Februar] kamen jede Menge Ausgebombte in Rehefeld an, Mutter als ehemalige Dresdnerin nahm auf, soviel nur möglich waren. Alle Zimmer unseres Hauses waren mit je drei, vier Leuten vollgestopft.
. . . Es war furchtbar. Außer den Sachen auf den Leibern war ihnen nichts geblieben.“ (Peter Maier)

„April 1945, die Stadt Meißen glich einem Flüchtlingslager. Tausende Menschen aus dem Osten, vor allem Oberschlesien und Pommern, suchten Zuflucht in der Stadt und den umliegenden Dörfern. Alle Schulen waren geschlossen. Sie dienten als Lazarett für die verwundeten Soldaten oder als Flüchtlingslager.“ (Erich Brumm)

Ein letztes Aufbäumen

„Der Krieg war noch nicht beendet, die Führung der Nazis träumte immer noch von der Wunderwaffe und täglich gab es Durchhalteparolen. Die fliegende Heeresstreife hatte in Grumbach ein Auffanglager eingerichtet. Alles, was irgendwie noch laufen und schießen konnte, wurde im Lager formiert. Aufsässige Offiziere, die sich dem Sonderbefehl widersetzten, wurden erschossen.“ (Erich Brumm)

„Pünktlich 12 Uhr begann die Sprengung der zwei [Meißner] Brücken. Eine nicht zu beschreibende Druckwelle erfasste uns, selbst im Keller, obwohl abgeschwächt, spürten wir, dass etwas Furchtbares geschehen war. Nach der Sprengung kamen wir wie die Maulwürfe aus dem Keller. Wir staunten nicht schlecht, die Häuser auf dem Theaterplatz standen noch, aber ohne Dachziegel. Meterhoch lagen die Dachziegel auf der Straße, besonders vom Stadttheater . . . . Die Altstadt glich einer Stadt ohne Dächer.“ (Erich Brumm)

Die Kinder und die Wehrmacht

„Als ich dies eines Tages wiederum tat [einen Meldezettel abgeben] und das Amt mit „Auf Wiedersehen“ verließ, brüllte mir der Bürgermeister, den man nur in seiner SA-Uniform kannte, nach: „Komm zurück!“ Dann schrie er mich an, „Es heißt Heil Hitler, alter Lümmel!“ Natürlich erzählte ich das unserer Mutter. „Dann tu es doch“, meinte sie lächelnd. Kurze Zeit darauf kam dieser Herr Matthes unseren Weg herauf. Ich baute mich am Zaun auf, erhob zackig den rechten Arm und rief: „Heil Hitler, alter Lümmel!“ Wutentbrannt stürzte er in Mutters Laden und schrie sie an: „Ich lasse sie wegen Staatsbeleidigung ins KZ bringen.“ Ich zitterte vor Angst am ganzen Leibe, was sich noch verschlimmerte, als mir Mutter danach erzählte, was das ist, ein KZ.“ (Peter Maier)

„Auf der Dorfstraße fand meine Schwester Petra eines Tages eine silberne Uhrkette. Mutter meinte, dass sie nur einem Soldaten gehören könne, in Rehefeld trüge keiner solch Stück. Also gingen wir daraufhin zum Stab der Einheit, der im Försterhaus am Waldrand residierte, und gaben die Kette dort ab. Wir sollten einem Soldaten folgen, der uns eine Belohnung geben würde. Jener ergriff aber eine Axt und hieß uns mitzukommen. Uns wurde unheimlich mulmig bei dem Gedanken, dass jetzt was Schlimmes passieren könnte. . . . Nach wenigen Augenblicken erschien der Soldat wieder mit einem gewaltigen Block Schokolade, hieb mit der Axt ein erhebliches Stück ab, gab es uns und verschwand alsbald.“ (Peter Maier)

Das Ende des Schreckens

„Plötzlich haben sich die Erwachsenen umarmt, sich sehr gefreut: Der Krieg war zu Ende. Alle wollten lieber trocken Brot essen als nochmals einen Krieg zu erleben.“ (Ingrid Berg)

„Das Gefühl, was mich bewegte, zwischen den Russen zu stehen, die ich ja nur als Kriegsgefangene kennengelernt hatte, war: „Der Krieg ist aus“, wir hatten überlebt. . . . Es war ein befreiendes Empfinden für mich, die Nazis hatten nichts mehr zu sagen, ich fühlte mich frei.“ (Erich Brumm)

Begegnung mit den Fremden

„Von den zahlreichen Ami-Posten konnten wir Kinder ab und an ein paar Kaugummis erhaschen. Die Amis liebten allerdings unsere Kinderbesuche weniger, sie beschäftigten sich doch lieber mit größeren weiblichen Wesen. Diese durften sogar mit den Amis das Lager verlassen. Sie kamen dann meist mit mehr als ein paar Kaugummis zurück.“ (Peter Maier)

„Wir Kinder bekamen auch gute Sachen zu essen von den [russischen] Kommandanten. Ein Soldat kam jeden Tag nach dem Dienst meinen Bruder holen (15 Monate). Er hat ihn getragen und mit ihm gespielt. Ein Dolmetscher erklärte meiner Mutti, auch der Soldat hatte in seiner Heimat ein Kind in dem Alter, aber die Deutschen haben seine Frau mit dem Kind umgebracht! Das ist allen sehr nahe gegangen.“ (Ingrid Berg)

„Wir wussten es von Erzählungen der Flüchtlinge, die aus dem Osten zu uns gekommen waren. Wenn sich eine Stadt verteidigt und es Tote gibt, kommt die Vergeltung auf uns zu. Das heißt, die Stadt wird drei Tage zur Plünderung freigegeben und die Frau ist Freiwild.“ (Erich Brumm)

Tage der Vergeltung

„Die Plünderung [in Meißen] begann, das heißt, alle Geschäfte waren gewaltsam geöffnet und jeder holte sich das, was er wollte. Die Russen, welche noch in der Stadt waren, die meisten waren in Richtung Dresden weiter gezogen, versorgten sich mit Zigaretten und Alkohol. . . . Dann kamen wir, die Deutschen, und räumten gründlich aus, alles was irgendwie zu Essen war, wurde mitgenommen. . . . Das Öffnen der Geschäfte übernahmen die Russen, sie hatten dabei ihre eigene Methode. Mit ihren Lkw fuhren sie gegen die Türen, oder sie standen mit dem Auto mitten im Schaufenster, fuhren wieder rückwärts, lachten über ihr Zerstörungswerk und ließen die Deutschen zum Plündern ein.“

„Die nächtliche Stille trog jedoch, es war die Zeit, wo die Soldaten ihr Ziel suchten, eine Frau zu besitzen, so wie es ihre Führung angekündigt hatte: „Ihr dürft heute Nacht euch das nehmen, was ihr für eure Befriedigung braucht, unabhängig von jeder moralischen Wertung“. [Schwester und Stiefmutter werden vergewaltigt.] (Erich Brumm)

„Total ungemütlich wurde uns aber, als sich unsere Besucher nun anschickten, sich für Mutter zu interessieren. Noch heute habe ich das in den Ohren: „Frau, schlafen!“ Da sich Mutter, kräftig war sie ja, erfolgreich wehrte, versuchten sie es nun bei der zierlicheren, etwas älteren Tante Lies.
. . . Zum Glück hupte deren Laster lautstark, woraufhin die Russen unverrichteter Dinge eilig davonstürmten.“ (Peter Maier)

Was bleibt

„Wer freut sich denn heute noch, wenn er den Ofen warm bekommt oder für mehrere Stunden elektrisches Licht oder eine Scheibe trockenes Brot hat?“ (Peter Maier)

„Irgendwie hat man als Kind vielleicht alles nicht so schlimm empfunden, aber in Angst hat man schon gelebt. . . . Man hätte schon viel früher alles aufschreiben müssen, es sind auch dies nur Bruchteile des Erlebten.“ (Ingrid Berg)