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Hauptsache wieder kopfüber und Spaß

In Dresden gibt es eines der weltweit führenden Strahlenzentren für die Krebsbehandlung. Es ist Pias Hoffnung auf Leben.

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© Thomas Kretschel

Von Stephan Wiegand

Aufstehen. Immer wieder aufstehen. Egal, was passiert, wie schmerzhaft es auch wird. Pia rappelt sich immer wieder auf. Sie versucht zu vergessen, dass mitten in ihrem Gehirn ein Tumor gewachsen ist. Vorsichtig beschreibt die Elfjährige, wie sie die letzten Monate empfunden hat, welche Ängste sie fast lähmten und die Versuche, sich im Leben zu halten. In solchen Momenten fließen bei ihren Eltern die Tränen. „Wenn wir sie heute sehen, wie selbstbewusst Pia auf Menschen zugeht, wie sie wieder Mädchen ist – wir sind so stolz auf unsere kleine Kämpferin.“ Ihre letzte Bestrahlung ist einige Wochen her – der vorläufige Schlussstrich unter schmerzhafte Biopsien, eine hochwirksame Chemotherapie und unter eine der besten Bestrahlungen mit Protonen. Nun hoffen Ärzte und Familie, dass Pia gesund ist und bleibt.

Mechthild Krause behandelt Pia mit der Protonentherapie. Die Wissenschaftlerin und Ärztin leitet eines der international führenden Zentren für Strahlentherapie. Heute übernimmt sie dessen Leitung ganz offiziell. Ihr Vorgänger war zum Jahresende in Heidelb
Mechthild Krause behandelt Pia mit der Protonentherapie. Die Wissenschaftlerin und Ärztin leitet eines der international führenden Zentren für Strahlentherapie. Heute übernimmt sie dessen Leitung ganz offiziell. Ihr Vorgänger war zum Jahresende in Heidelb © Thomas Kretschel

Der Feind im Kopf

Hirntumor. Die Diagnose traf die Familie wie ein Schlag. Pia war Turnerin beim Dresdner Sport Club. Fast jeden Tag war sie in der DSC-Turnhalle an der Magdeburger Straße. Jedes Gerät war ihr vertraut. Sie kannte den Geruch in der Halle, mit ihren Freundinnen rang sie um Bestnoten. Sie war zierlich, beweglich und schnell. Plötzlich konnte sie nicht mehr mithalten. Das agile Mädchen mit besten Haltungsnoten verlor den Bodenkontakt.

Schon nach einigen Untersuchungen im Dresdner Uniklinikum war klar: Die Situation ist lebensbedrohlich. Ein Tumor im Kopf hatte Pias gesamte Entwicklung durcheinandergebracht. „Wir konnten uns das einfach nicht erklären, was da passiert ist. Pia hat sich plötzlich in ihrem ganzen Wesen verändert. Klar, beim Sport haben wir das am deutlichsten gesehen, aber auch beim Spielen, beim Reden – das war so eine grausame Zeit für uns“, sagt ihr Vater und sucht mit Blicken nach seiner Frau. Gemeinsam haben sie in den letzten Monaten schlimme Wochen, Tage und Stunden erlebt. Immer gefangen zwischen Ungewissheit und Hoffnung.

„Ich bin eigentlich ein optimistischer Typ“, sagt Rainer Hielscher und ringt um Fassung, „aber diese Hilflosigkeit macht einen fertig. Nachdem klar war, wie ernst es um Pia steht, war es, als bliebe das Universum stehen, als wäre jeder Atemzug ohne Sinn.“ Und mit diesem Gefühl musste Rainer Hielscher Vertrauen fassen – zu Ärzten, Schwestern, Pflegern und zu seinem Kind, denn niemand konnte vorhersehen, wie Pia die Behandlungen, die lange Zeit im Krankenhaus und die Untersuchungen verarbeitet. Allein die Vorstellung, dass man im Dresdner Uniklinikum eine kleine Gewebeprobe vom Gehirn nehmen musste, fällt schon schwer.

Was dann folgte, waren Höhen und Tiefen. In vielen Gesprächen schöpfte die Familie immer wieder Mut. Pia zog für die Chemotherapie im Krankenhaus ein. Ihr Bett wurde zum Spielplatz in den Zeiten, in denen es ihr besser ging und zum Schlachtfeld, wenn sie mit den gravierenden Nebenwirkungen ringen musste. Immer erinnerte sie sich an ihr Training, an die Selbstbeherrschung, mit der sie über den Schwebebalken schritt, und sie blieb Siegerin. Die Tumorzellen reagierten so auf die Medikamente, wie die Ärzte es erhofften. Das Germinom konnte nahezu zerstört werden. Um das bösartige Gewebe vollends zu entschärfen, setzten die Ärzte auf eine beeindruckende Waffe im Kampf gegen Tumore: eine extrem präzise Bestrahlung mittels Protonen. In den letzten zwei Jahren wurde dieses Verfahren am Dresdner Uniklinikum perfektioniert. Immer dann, wenn Chirurgen mit ihrem Handwerk an natürliche Grenzen kommen, bleibt als eine der letzten Optionen der Protonenstrahl.

Tumorzellen unter Beschuss

Auf wenige Millimeter genau gelingt es dem Team um Medizinprofessorin Mechthild Krause, Tumore zu beschießen, ohne dabei gesundes Gewebe zu zerstören. „Wir wissen ganz genau, dass alle unsere Patienten unendlich große Hoffnung haben und uns vertrauen müssen, wenn sie zu uns kommen“, sagt die neue Direktorin der Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie. „Wir sind oft genug Wissenschaftler, Therapeuten und Psychologen in einer Person.“ Die Wissenschaftler sind auch Ärzte. Sie sind spezialisiert auf kleine Patienten, die mit ihren Eltern Grenzzonen des Lebens erreichen.

Für die Protonenbestrahlung bekommt Pia eine eigene Maske. Dieses Plastikgeflecht wird auf der Liege fixiert und nimmt dem Mädchen jeglichen Bewegungsspielraum. Pia kennt ihr Modell ganz genau. Mit Buntstiften ist auf den blassgelben Untergrund eine Blume gemalt. Sie legt sich auf das weiße Tuch und bewahrt die Ruhe. Das Atmen fällt schwer. Der Blick ist nach oben gerichtet. Langsam beginnt sich die so riesige Anlage zu drehen. Einige Minuten bleibt Pia nun allein im Raum, mit dem Rauschen der Klimaanlage und der Vorstellung, dass Protonen die letzten Tumorzellen vernichten, mitten in ihrem Kopf.

Außer Dresden gibt es deutschlandweit nur wenige vergleichbare Therapiezentren. Mit der ihr eigenen und ungemein sympathisch wirkenden Zurückhaltung erklärt Mechthild Krause: „Die Protonentherapie ist eine noch junge Methode. Uns unterscheidet von vielen anderen Protonentherapiezentren, dass wir täglich damit beschäftigt sind, das Verfahren zu verbessern“. Daran arbeiten im Oncoray-Zentrum rund 80 Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf, der TU und vom Universitätsklinikum. Deren größte technische Herausforderung ist es dabei, die Bestrahlung noch weiter zu präzisieren, sie punktgenau auf die tödlichen Zellen zu fixieren.

An den Grenzen der Medizin

Kein leichtes Unterfangen, denn die Protonen lassen sich auf dem Weg zum Tumor kaum verfolgen. Einzige Chance ist es, Gammastrahlen auszuwerten, die bei der Behandlung entstehen. Dieses „Abfallprodukt“ zeigt, wo der Protonenstrahl seine Energie abgibt. So könnten die Wirksamkeit der Protonen deutlich erhöht und Nebenwirkungen reduziert werden.

Seit 2015 ist Dresden neben Heidelberg ebenfalls Standort des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen. Ein Umfeld, von dem nun auch Pia profitiert. Sie lächelt wieder, ihr Optimismus ist zurückgekehrt und die Freude auf die Zukunft auch. Ihr Körper findet gerade das neue Gleichgewicht. Aus den Gesichtern der Eltern verschwindet langsam die Anspannung – und das Mädchen schmiedet schon ihre eigenen Pläne. „Ich könnte mir vorstellen, dass ich mal Schauspielerin werde und ich möchte auf alle Fälle weiter turnen.“ Vielleicht ist es genau diese Körperbeherrschung, die Pia am Leben gehalten hat und allen ein kleines Lächeln ins Gesicht zaubert – wenn sie das Dresdner Therapiezentrum verlässt.