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Handwerk statt Hörsaal

Kammern und Verbände kämpfen gegen Studienwahn. Jeder achte Lehrling ist Abiturient.

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© Ronald Bonß

Von Michael Rothe

Wenn Rainer Götze auf Holz klopft, entstehen Pflanzkübel für Dresdens Zwinger, Badezuber für Wellnessoasen oder Fässer für Brauereien und Winzer. Die Böttcherei mit vier Mitarbeitern in Dresden-Leubnitz steht gut im Geschäft – auch weil es immer weniger Konkurrenten gibt. Küferei gilt als sterbendes Handwerk, seit Behälter aus Edelstahl, Glas, Kunststoff und Beton dem Naturprodukt den Rang ablaufen. Vor 60 Jahren gab es in Dresden noch 50 Betriebe – mehr als heute bundesweit.

Götze hält dagegen. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters in diesem Jahr ist der Erhalt des 126 Jahre alten Familienbetriebs auch eine Mission. Dabei hatte der 29-Jährige anderes vor, Ökologie und Umwelttechnik studiert. Nach dem Abschluss die Erkenntnis: „Ein Job hinterm Schreibtisch ist auf Dauer langweilig.“ Ähnlich ging es seinem gleichaltrigen Schwager Jost Arnhold nach dessen Geografie-Studium. Folge: Rainer macht seinen Meister, Jost beendet in Kürze seine Lehre im Betrieb, den Mutter Ramona Götze führt. Selbst der notgedrungene Umweg über eine Berufsschule in Österreich konnte das Duo nicht abhalten.

In Zeiten wachsenden Fachkräftemangels sind Leute wie Götze und Arnhold ein Segen fürs Handwerk mit fast 59 000 Betrieben im Freistaat. Ein Glücksfall sollen sie nicht sein. Abiturienten und Akademiker müssten öfter und zielgerichtet angeheuert werden, so die Forderung von Sachsens Handwerkstag. Die Dachorganisation der Innungen und Verbände würde auch gern auf Holz klopfen, muss  aber vorher dicke Bretter bohren: beim Volk für das Verständnis, bei der Politik für das Umfeld – und bei seiner Basis für die Umsetzung.

„Hochschulbildung ist in Deutschland zum Normalfall geworden, die duale Ausbildung seit 2013 im Hintertreffen“, klagt Handwerkstagspräsident Roland Ermer. Nach einer Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung standen vor acht Jahren bundesweit 350 000 Studienanfängern 520 000 Lehrlinge gegenüber. 2030 würden nur noch 400 000 Jugendliche eine Ausbildung beginnen, heißt es.   Andreas Brzezinski, Chef der Handwerkskammer Dresden, spricht von „Studienwahn“. Von der Realität eingeholt, sei es nach Selbstüberschätzung oder wegen falscher Vorstellungen, breche gut jeder Vierte sein Studium ab.

Solche Aussteiger, aber auch Hochschulabsolventen und Abiturienten, sind neue Zielgruppen, die sich das Handwerk erschließen will. Zwar werde die selbst ernannte „Wirtschaftsmacht von nebenan“ auch künftig vor allem auf Haupt- und Realschulabgänger zugehen, sagt Sachsens Oberhandwerker Roland Ermer. Doch brauche es auch qualifizierten Führungskräftenachwuchs, um Betriebe zu übernehmen. In den nächsten zehn Jahren müssten im Freistaat 9 000 Chefs ihr Lebenswerk in jüngere Hände legen. „Hände sind gut zu bekommen. Aber wenn man auch noch einen Kopf braucht, wird es schwierig“, so der Präsident.

Die Aufgaben im Handwerk würden durch den technologischen und digitalen Wandel in der Arbeitswelt immer komplexer, begründet Ermer den Ruf nach der Elite. „Das Bild vom Bäcker, Fleischer und Tischler stimmt nicht mehr“, sagt der Bäckermeister aus Bernsdorf. Es gehe nicht nur um die Herstellung eines Produkts, sondern auch um ansprechende Vermarktung, Service, Beratung und Betreuung.

Bei der Abiturienten-Werbung verzeichnet Sachsens Handwerk erste Erfolge. Im vergangenen Jahr entfielen von 4 651 Lehrverträgen 583 auf Schulabgänger mit Hochschulreife. Mit einer Quote von 12,5 Prozent liege der Freistaat über dem Bundesmittel von elf Prozent. Kfz-Mechatroniker, Zahntechniker und Augenoptiker seien die gefragtesten Berufe – auch bei den seit 2013 vermittelten gut 100 Studienabbrechern. Laut Ermer gibt es hierzu Kooperationen mit Hochschulen. „Jedoch sollte Prävention vor Reparatur stehen!“ Daher dürfe Berufsorientierung in Gymnasien nicht nur auf akademische Ausbildung ausgerichtet sein. Es gelte, auch die Chancen dualer Ausbildung aufzuzeigen. In dem Zusammenhang erinnert Ermer die Landespolitik an ihr Versprechen, mit 1 000 Euro Meisterbonus ein Zeichen zu setzen.

Für den angehenden Böttchermeister Rainer Götze steht bereits heute fest, dass er mit dem Meisterbrief in der Tasche „früher oder später“ einen Lehrling haben wird. Befragt nach dessen Voraussetzungen sagt er schmunzelnd: „Er muss nur motiviert ein. Das abgeschlossene oder abgebrochene Studium ist keine Bedingung.“