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Halber Tanz durch ganz Europa

Zwei junge Görlitzer proben wochenlang fürs Straßentheater. Doch zur Europatournee kann einer nicht mit.

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© Felix Groteloh Panoptikum

Von Andreas Herrmann

Ein Sommerabend Ende Juli, Stühlinger Kirchplatz in Freiburg/Breisgau: „The Crossing Lines“ entladen sich nach sechs Wochen intensivem Proben in einer einer dynamischen Tanz- und HipHop-Show, die in mehreren Punkten einzigartig ist und beim kommenden ViaThea Ende Juno 2018 in Görlitz zu sehen sein wird. Tausende begeisterte Zuschauer erlebten eine 70-minütige Tanz- und Rapshow des „Aktionstheaters Panoptikum“, die zum einen auf der „Orestie“ von Aischylos, aber auch auf Peter Handkes „Selbstbezichtigung“ beruhen soll und in einem reinigendem Wasserguss auf der zweistöckigen Bühnenbildgalerie in Maueroptik endet.

Mit dabei sind zwei junge Tänzer aus Görlitz: Marie Sophie Siegemund und Abdirahman Nuur.
Mit dabei sind zwei junge Tänzer aus Görlitz: Marie Sophie Siegemund und Abdirahman Nuur. © Panoptikum

Das wichtigste Merkmal der Show: Die jungen 28 Artisten kommen aus zehn europäischen Partnerstädten, denen zwei Sachen eigen sind: Sie beherbergen jeweils ein renommiertes Straßentheaterfestival und sie hatten in dessen jüngster Ausgabe ein Extra-Jugendprogramm eingebettet - quasi als Castingshow für die nun folgende Grenzüberschreitung. Das Projekt mit dem Titel „Power of Diversity“ (Kraft der Vielfalt) wird von der Europäischen Union finanziert.

Aus Görlitz hatten sich dafür Marie Sophie Siegemund und Abdirahman Nuur qualifiziert. Sie spielten im Juli 2016 auf dem Nikolaifriedhof unter 21 jungen Erwachsenen im Alter von 17 bis 23 Jahren aus Deutschland, Polen, Albanien und Algerien in einer gelungenen Performance, die zwei Mal zum gut besuchten ViaThea-Höhepunkt ward, die besten Rollen. Danach dauerte es ein Weilchen, bis klar war, dass ihr Lebenslauf nun einen großen Hüpfer machen würde – auch wenn sich die Wege kurz nach dem großen Erlebnis in Freiburg trennten: Marie flog mit allen Tänzern nach Dänemark, Abdirahman fuhr allein im Zug nach Hause.

Tragödie und Odyssee

Dass sich die Wege nun trennen, hat biografische wie politische Gründe: Marie Sophie Siegemund ist Görlitzerin des Jahrganges 1998 und hatte just vorm Probenbeginn Mitte Juni ihren Abiball hinter sich. Mit 1,5 als Abschlussnotenschnitt ist sie nicht ganz zufrieden, vorm avisierten Jura-Studium kam ihr die Freiburger Pause ganz recht. Sie nutzte ihre Chance konsequent.

Anders der Weg von Abdirahman Nuur. Er wurde im Jahr 2 000 in Somalia geborenund kam vergangenes Jahr über die direkte Werbung in seinem Görlitzer Berufsschulzentrum, wo er intensiv Deutsch lernte, zum Projekt. Wie in Görlitz nannten ihn auch in Freiburg alle nur „Jordan“ – dabei steht er dank seines Vornamens immer ganz vorn auf Teilnehmerlisten, so auch bei „Power of Diversity“ im Netz.

Seine Schicksalsgeschichte ist die des klassischen Flüchtlingsjungen: In einen halben Jahr quer durch Afrika für 800 Dollar, die Überfahrt übers Mittelmeer für 2 500 Dollar – bezahlt aus der großen Familienkasse, nachdem der Vater von einer islamistischen Miliz erschossen wurde und der große Bruder bei der Flucht starb. Nun lebt die Mutter mit zwei Schwestern und zwei Brüdern alleine, der Kontakt ist spärlich – ein wunder Punkt, bei dem er schweigsam wird.

Dass er nun diese Show mitmacht, wissen sie in der Heimat noch nicht. Sein Berufswunsch Seemann verwundert weniger. Bis dahin will er rappen und tanzen, erste Videos mit Talentbeweis gibt es schon im Netz. Seit 19. Juni proben beide Görlitzer in Vollzeit für die große Show, tausend Euro Taschengeld plus freie Kost und Logis gibt es dafür. Die Tour bringt nach der Premiere insgesamt neun weitere Gastspielwochen im Laufe eines reichlichen Jahres in ganz Europa. Zur Premiere, also nach sechs Wochen Teamarbeit fern der Heimat, sind die beiden jungen Tänzer immer noch begeistert: „Wir sind ein tolles Team, die Proben sind wie erwartet anstrengend, aber es gibt sehr gutes Essen.“ Kein Gewichtsverlust, betont Marie Sophie Siegesmund lachend.

Regisseurin Sigrun Fritsch, in Görlitz durch das Gastspiel „Transition“ (ViaThea 2015) bekannt, ist eine von zwei Leitern des Aktionstheaters Panoptikum. Sie leitete die Vorinszenierung in Görlitz und erklärt die Auswahl der beiden: „Uns war dabei sowohl die künstlerische Ausdrucksfähigkeit als auch die soziale Kompetenz sehr wichtig“. Der zweite Chef der gemeinnützigen Theater-GmbH ist Matthias Rettner. Er war einst als Konzertsänger und Konzeptkünstler unterwegs, ist nun schon seit 1999 bei Panoptikum, das seit 1982 existiert und als größte Theatertruppe ihrer Art in der Bundesrepublik gilt. Etwa 40 Frauen und Männer sind jeweils an den Projekten beteiligt. Warum ausgerechnet HipHop? „Es ist als jugendverbindende Kunstform unser Medium, weil es in allen Ländern ohne Sprache funktioniert“, erklärt Rettner, der dafür die Berliner Crew Rapucation ins Projekt einband. Parallel zum Organisations- und Probenprozess kämpfte Rettner – von den Jugendlichen nahezu unbemerkt – um Nuurs Teilnahme an der gesamten Tournee: „Natürlich wussten wir um die Schwierigkeiten, auch dass die Situation für Flüchtlinge in Sachsen eine besondere ist. Aber uns ging es bei der Auswahl um die Förderung von Talenten, und seine Anlagen sind schon außergewöhnlich.“ Nun zog Nuurs Vormund, ein engagierter Bundespolizist, der sich immer wieder um seinen Schützling kümmerte, dienstlich von Görlitz nach Frankfurt/Oder – und der Görlitzer Tänzer mit ihm. Was bedeutet das jedoch für den Behördenmarathon, der nun schon fast ein halbes Jahr dauert? „Das wissen wir noch nicht, denken aber, dass es eher einfacher wird. Schwieriger als mit den Sachbearbeitern im Landratsamt Görlitz kann es kaum werden“, erzählt Rettner und hoffte bis zur Abreise zur Europatournee auf ein neues Zeichen. Denn wenn ein Flüchtling ohne Papiere aus Deutschland ausreist, verliert er bei der Wiedereinreise seinen Status. Nuurs Odyssee nähme dann eine neue, vermutlich harte Wendung.

Der Preis dafür ist dennoch hoch. Denn wenn sich nun die „Crossing Lines“ via Gastspielen bei den Partnerfestivals wie ein Netz über Europa legen, wird „Jordan“ vorerst fehlen. Für Marie Siegemund geht es hingegen zur dänischen Hamletstadt Helsingør, exotischer wird es im Winter in Kirkenes am norwegischen Polarkreis (Frischlufttheater bei 25 Grad unter Null) oder zum Abschluss in Las Palmas auf Gran Canaria. Einmal ist Polen und zweimal England das Ziel, das größte und bestorganisierteste Festival seiner Art in der EU, so schwärmt Rettner, wartet aber im rumänischen Sibiu – Älteren auch als siebenbürgisches Hermannstadt und Bildungsbürgern als europäische Kulturhauptstadt 2007 bekannt.

Doch spätestens zum großen Heimspiel gibt es dann ein Wiedersehen mit allen. Für Nuur und Siegemund auch mit den anderen Ex-Mitstreitern vom Nikolaifriedhof, die nach der Auswahl vielleicht traurig oder gar neidisch gewesen sein mögen, aber dann wieder aktiv in die Görlitzer Show eingebunden werden.

Matthias Rettner zeigt sich optimistisch, dass Nuur schon eher wieder bei der Truppe sein kann: „Die sechs Wochen in Freiburg waren für ihn, so unser Eindruck, schon ein Gewinn. Und sobald er eine Aufenthaltsgenehmigung hat, fährt er auf jeden Fall mit. Ich gehe davon aus, dass er schon bei den nächsten Auftritten dabei sein wird.“