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„Hätte er nur eine Erbse mehr gefrühstückt“

Ex-Zehnkämpfer Frank Busemann erklärt den Fabel-Weltrekord von Kevin Mayer und sagt, was die Leistung des Franzosen so herausragend macht.

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© dpa

Dieser wahnsinnige Wettkampf wirkt nach, immer noch. Und die Zahl steht, vermutlich auf Jahre hinaus, vielleicht sogar Jahrzehnte: 9 126. In Worten: neuntausendeinhundertsechsundzwanzig. So viele Punkte wie kein Mensch vor ihm hat Kevin Mayer beim Zehnkampf vor vier Wochen im französischen Talence gesammelt.

Der Begriff Fabel-Weltrekord wird häufiger genutzt, bei Mayers neuer Bestmarke passt er nicht nur. Ein anderes Wort, findet der deutsche Ex-Zehnkämpfer Frank Busemann, wäre nicht angemessen für das, was der Franzose geleistet hat.

Was das im Einzelnen ist? Im Gespräch mit der Sächsischen Zeitung nimmt Busemann, selbst Olympiazweiter in Atlanta 1996, Mayers Zehnkampf auseinander und kommt zu dem Schluss, dass sogar noch mehr drin gewesen ist.

Herr Busemann, wissen Sie noch, wie Ihre erste Reaktion auf die Nachricht von Mayers Weltrekord war?

Ich war im Endeffekt überrascht – wie langsam er die abschließenden 1 500 Meter gelaufen ist. Eigentlich hätte er einen Zehnkampf für die Ewigkeit hinlegen können, wenn er 4:26, 4:27 gelaufen wäre statt den 4:36 Minuten. Das ist aus meiner Sicht der einzige Kritikpunkt dieses unglaublichen Zehnkampfes.

Das ist aber jetzt Kritik auf ganz hohem Niveau!

Das stimmt. Ich kenne mich im Bereich von 9 000 Punkten auch nicht aus, ich weiß nicht, wie emotional anstrengend das dann ist. Aber klar: Er war sicher überwältigt und hat hinten raus nicht mehr ganz so flüssig laufen können. Unterm Strich war es nicht abzusehen, dass es einen Athleten gibt, der mal so viele Punkte sammelt.

Sie haben die 1 500 Meter angesprochen: Wenn man sich Mayers zehn Einzelergebnisse anschaut und Ihren besten Zehnkampf von Olympia 1996 danebenlegt – Sie waren vor 22 Jahren schneller als der Franzose jetzt.

(lacht laut) Wenigstens etwas, oder?

Haben Sie eine Erklärung, warum er am Ende nicht doch ein bisschen schneller gelaufen ist?

Ich habe seine letzten Meter gesehen, und klar, das sah nach Anschlag aus. Aber ich will das mal mit Roman Srble vergleichen, der als erster Zehnkämpfer überhaupt die 9 000 Punkte übertroffen hat. In dem Wettkampf ist er die 1 500 Meter zehn, 15 Sekunden schneller gelaufen als sonst. Das ist auch das, was ich vielen Zehnkämpfern ein bisschen vorwerfe: Dass sie hinten raus Ergebnisverwaltung betreiben.

Meinen Sie das ernst?

Das ist natürlich ein Vorwurf, der jeglicher Grundlage entbehrt – weil es Mayer am Ende auch egal gewesen ist, ob er 9 126 oder 9 150 Punkte macht. Es war ja vorher schon glasklar, dass er einen neuen Weltrekord erzielt. Er hat sich auf den 1 500 Metern ja nur nicht mehr verlaufen dürfen.

Kann man sich denn eine Bestleistung oder, wie bei Mayer, einen Weltrekord vornehmen?

Ja, klar. Deshalb hat er bei der EM in Berlin nach den drei ungültigen Versuchen im Weitsprung, bei denen er volles Risiko gegangen ist, den Wettkampf auch abgebrochen. Mayer wollte den Weltrekord, nur der zählte – nicht der EM-Titel.

Und wann merkt ein Zehnkämpfer, dass es tatsächlich etwas werden könnte mit der Bestleistung?

Schon im Training. Dementsprechend hat Mayer auch agiert. Die 100 Meter im Wettkampf sind dann immer eine Standortbestimmung. Du merkst beim Einlaufen: Meine Güte, ich bin in der Form meines Lebens – und jetzt kommen diese zwei Tage, in denen ich das zeigen muss. Das ist die größte Herausforderung. Und nach den 100 Metern weiß man dann, man ist in der Spur – und darf nicht nervös werden.

Welche der zehn Disziplinen war die herausragende bei Mayers Weltrekord?

Ich finde, dieser Zehnkampf ist ein einziger Guss – von den 100 Metern bis zum Speerwerfen ist das neunmal auf allerhöchstem Niveau. Das Einzige, was ein bisschen schwächer ist, sind die 400 Meter und der Hochsprung. Die Ergebnisse sind immer noch sehr, sehr gut. Nur für Mayers Leistungsklasse ist das nicht normal, also eher schlecht. Und über die 1 500 Meter haben wir schon gesprochen, die sind außen vor. Am Ende muss man immer gucken, was derjenige in der jeweiligen Disziplin kann. Und bei Mayer waren die nicht überragend anmutenden Ergebnisse über 100 Meter und im Weitsprung zwei persönliche Bestleistungen. Auch das war also high end.

Ist der Stabhochsprung ein Knackpunkt als achte und technisch vermutlich anspruchsvollste Disziplin?

Das Gute bei Mayer ist ja: Er kann’s, er hat da eine traumwandlerische Sicherheit. Wobei: Bei der WM im vergangenen Jahr hat er die Anfangshöhe auch erst im dritten Versuch geschafft. Hätte er nur eine Erbse mehr gefrühstückt, hätte der die Latte mit seinem Bauch gerissen. Das ist halt immer ein schmaler Grat, und die Kunst besteht darin, High-end-Leistungen auf den Punkt abzuliefern.

Müsste der ideale Zehnkämpfer eher Werfer und Stoßer sein oder der bessere Läufer?

Darum geht es gar nicht. Entscheidend ist der Vergleich zu den anderen Athleten und die Frage, wie ich das maximal Mögliche für mich selbst heraushole. Im Wettkampf muss man immer den Gegner im Blick behalten. Bei meinem olympischen Zehnkampf 1996 wussten wir, dass die anderen nicht so gut die 1 500 Meter laufen – und ich ohne großen Mehraufwand gleich mal 50 Punkte aufholen konnte. Also haben wir im Vorfeld ein bisschen mehr 1 500 Meter trainiert und 50 Punkte aufgeholt.

Ist die Bewertung der Disziplinen im Vergleich untereinander fair?

Ja, die finde ich gut, die Punktetabelle passt. Da bin ich Traditionalist, die Bewertung war und ist so, damit kann man rechnen. Das ist vollkommen in Ordnung.

Was meinen Sie: Kann und wird Mayer diesen Fabel-Weltrekord noch mal verbessern können? Oder ein anderer?

Ich glaube, diese 9 126 Punkte sind nicht mehr so einfach zu wiederholen. So ein Zehnkampf birgt immer zehn mal zehn Gefahren. Es gibt hundert Sachen, die schiefgehen können während dieser zwei Tage. Und diese Konstanz in den zehn Disziplinen, wie sie Mayer gezeigt hat, gibt es ganz selten. Ich kenne überhaupt nur drei perfekte Zehnkämpfe.

Welche sind das?

Mein eigener 1996 bei Olympia, weil ich eben zehn Mal ganz nah an meinen persönlichen Bestleistungen dran war. Das gelingt wirklich nicht häufig. Der zweite perfekte Zehnkampf, da war das auch so, ist der von Srble über die 9 000 Punkte. Und jetzt der von Mayer.

Warum fehlt der Zehnkampf von Ashton Eaton, den Mayer als Weltrekordler abgelöst hat, in Ihrer Liste?

Weil der im Einzelnen gar nicht so herausragend war, eher gesunde Hausmannskost. Okay, seine 400 Meter waren exorbitant gut, auch die 100 und 1 500 Meter. Alles andere war mittelmäßig.

Noch mal die Frage: Wird Mayer seinen Rekord noch verbessern können?

Das wird schwer, er hat sein Lebensziel erreicht. Er wird 2020 Olympiasieger. Aber bei Olympia solche Leistungen abzurufen, ist nicht leicht. Alles muss zusammenpassen: die Form, das Meeting mit den Wartezeiten zwischen den Disziplinen, die Bedingungen. Ich glaube, der Weltrekord wird von Mayer nicht mehr verbessert. Und einen Nachfolger sehe ich noch nicht.

Das Interview führte Tino Meyer.