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Gut gelaunt in Blau

Die EU gilt seit Langem als bürokratisches Monster. Doch jetzt gehen in vielen Städten Bürger für ein geeintes Europa auf die Straße. Wer steckt in Dresden hinter der Gruppe „Pulse of Europe“?

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© Ronald Bonß

Von Rafael Barth

Dresden. Vier Mann, vier Ecken, ruckzuck steht der weiße Pavillon. Aber wenn der Wind vor der Dresdner Frauenkirche langpfeift, war’s das mit dem Zelt. Darum schneidet Sabine Vack eine Schnur in Stücke und bindet die Stangen fest an Betonsteine. Ihre Mitstreiterin Carola Vulpius verteilt blaue Armbänder auf einem Tisch, der mit einer blauen Europaflagge bedeckt ist. Den Klapptisch hat jemand aus einem Privatmercedes geholt. Aus Dosen kommen Muffins ins Freie, zuckersüß behütet in Braun, Gelb, Rot, Weiß. Von Vielfalt wird viel die Rede sein an jenem Sonntagnachmittag. Die Demonstration auf dem Neumarkt findet auch deshalb statt, weil Carola Vulpius und Sabine Vack sich dafür einsetzen.

Beide gehören in Dresden zu den wichtigsten Köpfen einer Bürgerbewegung, die zuallererst gute Stimmung verbreiten will. „Wir feiern wieder eine Stunde lang Europa“, ruft Vulpius den Anhängern zum Auftakt zu. Mit einem Mikro steht die grau gelockte Frau an der offenen Längsseite eines Lasters, vor ihr Hunderte Menschen, vom Kind bis zum Rentner. Eine Band spielt Rockhits. Etliche blaue Luftballons tanzen angebunden über der Menge.

Es ist die siebte Dresdner Veranstaltung von „Pulse of Europe“. Die Macher werben seit März für die Vorzüge der Europäischen Union, jeden Sonntag, Woche für Woche, selbst zu Ostern. Ein Rechtsanwaltspaar hat das Bündnis Ende vorigen Jahres in Frankfurt am Main gegründet. Seitdem bildeten Einwohner von fast achtzig deutschen Städten eigene Ableger, in Sachsen außerdem in Leipzig und Zwickau. Auch in Warschau, Tirana, Paris gehen EU-Fans auf die Straße. Das ist beinahe sensationell.

War Brüssel nicht eben noch die Bürokratenfestung mit der durchregulierten Gurke als Wappengemüse? Hatte sich die Staatengemeinschaft nicht fast zerrieben im Streit um Verfassung, Schulden, Flüchtlinge? Begeisterte das Konstrukt überhaupt irgendwen? Carola Vulpius gibt zu, dass die EU-Verwaltung aus der Ferne schwer zu durchschauen ist. Aber die promovierte Juristin sagt auch: „Ich habe Brüssel als unglaublich anregend erlebt.“

Vulpius, 53, geboren in Bonn, wohnt im Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch. Die Bücherregale sind reich gefüllt, die Teppiche auf dem Parkett bunt gemustert, der Tee kommt in feinem Porzellan auf den Tisch. Jeder ihrer vier Söhne spielt ein anderes Instrument, alle waren oder sind Schüler am angesehenen Kreuzgymnasium. Dort hat sich Vulpius als Elternsprecherin eingebracht und eine Reihe zum Berufekennenlernen begründet. Engagement ist für die eloquent-energische Frau selbstverständlich. Als Studentin hat sie bei einer Menschenrechtsorganisation Briefe geschrieben, um auf inhaftierte DDR-Bürger aufmerksam zu machen.

Reisen, sich mit anderen Kulturen beschäftigen: Das gehört für Carola Vulpius seit Kindertagen dazu. „Mit die schönsten Jahre des Lebens hat man im Ausland.“ Mit Mitte zwanzig absolvierte sie mehrere Monate lang ein Praktikum in Brüssel. Sie arbeitete mit Schweden, Spaniern, Portugiesen und ging abends feiern. „Insofern konnte man nur europabegeistert sein.“

Die Gefühle sind das eine. Das andere sind Vorteile, die Vulpius mit Europa verbindet: Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit. Zahlreiche EU-Bürger sehen das offenbar anders. Großbritannien sagt dem Bündnis goodbye, vielerorts bejubeln Menschen Rechtspopulisten. Trumps Wahlerfolg und der Brexit haben vermeintliche Sicherheiten zerstört. Möglich, dass nebenan bald Madame Le Pen das Sagen hat. Es könnte das Ende der EU sein. Dem möchten die Aktivisten zuvorkommen. Jetzt, vor dem entscheidenden Wahlgang in Frankreich und vor der Bundestagswahl im Herbst.

Carola Vulpius ist froh, dass im Mai, nach dem Finale der französischen Präsidentschaftswahl, der Demo-Rhythmus von wöchentlich auf monatlich springt. Zuletzt sei kaum Zeit gewesen zum Nachdenken. Laster, Technik, Musiker, alles mussten sie und die elf Mitstreiter eilig organisieren. Die Gruppe kannte sich vorher nicht. Man fand erstmals im Wohnzimmer von Carola Vulpius zusammen, nachdem sie bei den Frankfurter Gründern Interesse bekundet hatte. Für ihr Anliegen haben die Dresdner Organisatoren anfangs eigenes Geld ausgeben. Heute trägt sich das Ganze durch Spenden, bei jeder Demo erbeten für Muffins, Armbänder, Fahnen. Fahnen gehen gut in Sachsen. „Kannste aufn Balkon hängen“, sagt ein Mann zu seiner Frau, die sich am Klapptisch die Blauware anschaut. Ähnliches sagen nicht nur Europafreunde.

Es nervt sie deutlich, wenn man sie auf Pegida anspricht. Nein, sie verstehen sich nicht als Gegenbewegung. Nicht direkt. Dass die Pro-Europäer geistig und atmosphärisch völlig anders unterwegs sind als die „patriotischen Europäer“, dafür kann ja niemand was.

Anders als die meisten Demogruppen setzt sich „Pulse of Europe“ nicht gegen, sondern für eine Sache ein. Wobei die Sache sonntags am offenen Mikro etwas lockerer gesehen wird, Redner sich auch äußern zu Esperanto, Entwicklungshilfe und Erderwärmung. Sie halten sich bemerkenswert kurz. Für den gut getakteten Ablauf sorgt Carola Vulpius vor Ort, sonst von zu Hause aus. Sie beantwortet Bürgerfragen, lädt Bands ein und mögliche Redner. Das geht nur, weil sie nur halbtags arbeitet.

Seit 1995 ist Vulpius Richterin am Dresdner Verwaltungsgericht. Mit ihrem Profil spiegelt sie exakt den Durchschnitt des Dresdner Orgateams wider. Westdeutsch, weiblich, akademisch. Das Spektrum reicht von der Abiturientin bis zum Rentner, von Ärzten über Rechtsanwälte bis zur Unternehmerin. Acht der zwölf Organisatoren sind Frauen. Gerade mal vier Leute aus dem Team kamen im Osten zur Welt. So wie Sabine Vack.

Im Flur der Wohnung im Altbauviertel Striesen hängt eine Kleingalerie aus bunten Jacken. Die Tochter ist sieben, der Sohn drei, sonntags sind die Kinder bei ihren Großeltern. Anders würde Sabine Vack das nicht schaffen. Die 36-Jährige bearbeitet freiberuflich Filmaufnahmen für das ZDF. Sie hat sogar schon Aufträge abgelehnt, um bei jeder Europa-Demo mit anfassen zu können. Warum? Vack erinnert sich, wie sie als Kind vor dem Globus saß und bemerkte, dass sie nie in die USA oder Japan würde reisen können. Schon deshalb war der Mauerfall ein Segen.

Nach dem Studium zur Mediengestalterin hat Sabine Vack zwei Jahre in Peking gelebt, drei in Tel Aviv. In Israel merkte sie, wie unangenehm es sich anfühlt, wenn ein Land von lauter Feinden umzingelt ist. Später führten sie Arbeitstermine wiederholt zur EU-Kommission. Und wie das so geht: Der Riese schrumpft, wenn man sich ihm nähert. Die EU wurde ihr sympathisch.

Vack lernte in Brüssel kluge Leute kennen, die zum Beispiel Steuernachzahlungen für den Computerhersteller Apple durchgesetzt hatten. Auch Pressefreiheit und Gleichberechtigung sind Errungenschaften, die Vack durch die EU geschützt sieht. Als sie über Werte spricht, beginnt die schmucklos-schlanke Frau zu lächeln, und sie fragt, ob das jetzt nicht ein bisschen langweilig klingt.

In der Tat zieht „Pulse of Europe“ regelmäßig Kritik auf sich. Zugespitzt lautet sie so: Die Friede-Freude-Eierkuchen-Truppe betreibt Besitzstandswahrung im Sinne einer liberalen Wohlstandsschicht. Sie verkennt tatsächliche Probleme, etwa die soziale Kluft. Ihr Programm ist vage.

Letzterem stimmen sogar einige Organisatoren zu. „Es ist nicht unsere Aufgabe, politische Lösungen zu formulieren“, sagt Sabine Vack. Dafür gebe es Parteien und andere Organisationen. Wollte sich „Pulse of Europe“ um konkrete Forderungen bemühen, könnte die Bewegung zerbrechen. So bleibt es bei den zehn Punkten, die die Veranstalter auch in Dresden vorlesen. Ein Punkt: Die EU soll reformiert, soll bürgernäher werden. „Das wäre genial, wenn wir die da oben zum Nachdenken bringen würden“, sagt Carola Vulpius. Aber das geht nur, wenn die EU bestehen bleibt. Deshalb werben die Macher dafür, dass viele Bürger wählen gehen und zwar europafreundliche Parteien. Abseits des Internets bekomme sie dafür fast nur positive Reaktionen, sagt Sabine Vack. Von Familie, Kollegen, Freunden genauso wie auf der Straße.

Am Ende singen die Teilnehmer die Europahymne. Die Band aus sieben Kreuzgymnasiasten spielt eine poppige Version der „Ode an die Freude“. Und jetzt, Punkt drei, setzt auch das Glockengeläut der Frauenkirche ein. Ton und Timing hätte kein Regisseur besser hingekriegt.