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Großer Name, kleine Patienten

Otto Heubner war Begründer der Kindermedizin in Deutschland. Tausende Kinder verdanken ihm ihr Leben. Ein Nachfahre setzt dessen Arbeit heute in Dresden fort.

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© Matthias Rietschel

Jana Mundus

Die weiße Klappleiter hat nur drei Stufen. Aber auch die sind Arndt Borkhardt schon zu viel. Nicht wegen der Höhe. Wegen der Aufmerksamkeit, die er dort bekommt. Gerade noch stand Christoph Pötzsch auf der obersten Stufe und erzählte den Gästen seiner Führung über den Tolkewitzer Urnenhain in Dresden von bekannten Persönlichkeiten, die hier begraben sind. Im Innenhof des Krematoriums, mit Blick auf den wunderschönen Kreuzgang, überlässt der bekannte Hobby-Historiker den Hochstand aber gern Arndt Borkhardt. Er kündigt den Gast als einen der weltweit bedeutendsten Krebsspezialisten in der Kinder- und Jugendmedizin an – und als Retter des Grabmals Otto Heubners. Der berühmte Kinderarzt fand 1926 hier im Urnenhof seine letzte Ruhestätte.

Otto Heubner war nett zu seinen kleinen Patienten. Zum Lachen brachte er sie mit seinem sächsischen Dialekt.
Otto Heubner war nett zu seinen kleinen Patienten. Zum Lachen brachte er sie mit seinem sächsischen Dialekt. © Charité Universitätsmedizin Berlin

Borkhardt schüttelt leicht verlegen den Kopf, als er die Leiter hochklettert. Für den zurückhaltenden Mann mit den hellen Augen war das schon zu viel des Lobes. „Es geht bei diesem Termin ja nicht um mich.“ Jetzt sind die Blicke der knapp 130 Umstehenden auf ihn gerichtet. Und auf ein schwarzes Stück Stoff hinter ihm, an dessen Zipfeln der Wind spielt. Es bedeckt die steinerne Urne, in der sich die Asche Heubners befindet. In wenigen Minuten wird das Gefäß aus Zöblitzer Serpentin im Mittelpunkt stehen.

Der Mann auf der Leiter ist deshalb extra aus Düsseldorf angereist. Seit 2006 leitet Arndt Borkhardt dort die Kinderkrebsklinik. Mehrmals im Jahr ist er allerdings in Dresden. Nicht nur, um sich mit Kollegen auszutauschen. Der Arzt ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. „Ich kenne die Stadt gut“, sagt der 53-Jährige. Bis 1980 lebte er in Dresden, dann zog die Familie nach Magdeburg, wo er später Medizin studierte.

Die Gräber der Großeltern befinden sich auf dem Tolkewitzer Urnenhain. „Wenn ich sie besuche, gehe ich oft noch etwas auf dem Friedhof spazieren.“ Er liebt es, wie hier Tod auf Leben trifft, wie die oftmals reich verzierten Grabsteine vom üppigen Grün der Parkanlage umwachsen werden. Irgendwann stieß er auf die Grabstätte Otto Heubners. Auf einem Sockel steht dessen Urne in einer der zahlreichen Nischen des Urnenhofs. Als Borkhardt sie zum ersten Mal sah, war sie in einem schlechten Zustand. Die Oberfläche war verwittert, die Inschrift verblasste langsam. „Ich fand das traurig, weil er solch eine große Bedeutung für die Kindermedizin hat.“

Heubner – der Name ist in Mediziner-Kreisen berühmt. Niemand Geringeres als der preußische König und Kaiser Wilhelm II. unterschrieb am 11. Dezember 1894 Heubners Ernennungsurkunde zum außerordentlichen Professor für Kinderheilkunde. Als Erster in Deutschland überhaupt hatte er damit einen Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Berliner Universität inne. Für den damals 51-Jährigen ein absoluter Erfolg, für den er lange kämpfen musste. Schritt für Schritt hatte er dafür gesorgt, dass sich das Fachgebiet langsam aus dem Bereich der Inneren Medizin herauslöste.

Arzt und Wissenschaftler zu sein, schloss sich für ihn nicht aus. Er wusste, er kann beides: „Die Kranken pflegen und die Wissenschaft.“ Unermüdlich forschte er, um das Leben von Kindern zu retten. Er war einer der Ersten, der das durch Emil von Behring entdeckte Heilserum gegen Diphtherie einsetzte. Er ermittelte, wie viel Nahrung Säuglinge brauchen. Sein „Lehrbuch der Kinderheilkunde“ war viele Jahrzehnte hindurch Standardwerk. Auf seinen praktischen Erfahrungen beruhend, veröffentlichte er darin akkurate Beschreibungen von Krankheiten.

Auf dem Tolkewitzer Urnenhain bleibt Arndt Borkhardt an diesem Nachmittag gar nicht genug Zeit, um alle Leistungen seines Kollegen aufzuzählen. „Sein größtes Vermächtnis ist wohl, dass er so viele Kinderleben retten konnte.“ Der Düsseldorfer weiß, wie schwer das ist. In seiner Klinik sieht er täglich Kinder, die um ihr Leben kämpfen. Er versteht, was Heubner antrieb. „Helfen kann man allen Kindern, man kann nur nicht alle heilen“, sagt er. 20 Prozent seiner jungen Patienten verlieren ihren Kampf.

Der Professor aus Düsseldorf hatte also genug Gründe, als er im Sommer 2016 einen Brief an die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin schrieb. Er bat um Gelder für die Restaurierung der Grabstätte Heubners. Die Gesellschaft gibt es seit 1883. Einer der Gründer – Heubner, der Professor aus Berlin. Mit über 1 200 Euro finanzierte sie das Projekt. Im Januar 2017 wurde die Urne in den Dresdner Steinmetz-Betrieb von Andreas Hempel gebracht.

Heubner war auch Dresdner. Zumindest am Ende seines Lebens. Nach der Pensionierung lebte er bis zu seinem Tod am 17. Oktober 1926 mit seiner Frau noch einige Jahre in einem Haus in Loschwitz. Geboren wurde er am 21. Januar 1843 im vogtländischen Mühltroff.

Sein Vater Otto Leonhard Heubner war Jurist und Politiker, gehörte der Frankfurter Nationalversammlung an. Er beteiligte sich 1849 am Maiaufstand in Dresden. Wenig später wurde er festgenommen und des Hochverrats beschuldigt. Erst verurteilte ein Gericht ihn zum Tode, dann wurde diese Entscheidung in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.

Die Ereignisse wirbelten das Leben der Familie durcheinander. Die Mutter war nicht mehr in der Lage, sich allein um die Kinder zu kümmern. Sie kamen zu Verwandten. Otto Heubner wuchs bei seinem Onkel Julius, einem Pastor im vogtländischen Mylau auf.

Der damals Achtjährige war wissbegierig, lernte fleißig. 1861 begann er sein Medizinstudium an der Universität Leipzig. Später wurde er Choleraarzt im dortigen Jacobs-Hospital. Doch mit seiner Ernennung zum Direktor der Distriktpoliklinik fand er seine Berufung – die Kinderheilkunde. Viele Kinder musste er dort behandeln. In den folgenden Jahren setzte er sich für den Bau einer neuen Kinderklinik in Leipzig ein. 1891 eröffnete die Universitätskinderklinik. Doch Heubner wollte mehr für die Kinderheilkunde tun. Er wollte einen Lehrstuhl einrichten, damit Mediziner auf dem neuen Fachgebiet ausgebildet werden können. In Sachsen blieb dieser Wunsch unerfüllt.

In Berlin nicht. Dort bekam er den Professorentitel und übernahm 1894 die Leitung der Berliner Universitätskinderklinik der Charité. Die Säuglingssterblichkeit war damals hoch. Im ersten Lebenshalbjahr starben 78 Prozent der kranken Kleinen. In der „Lebenschronik“, die sein Sohn Wolfgang nach dem Tod des Vaters herausgab, schrieb Otto Heubner: „Mein Vorgänger Henoch hatte mir geraten, die Säuglingsabteilung ganz eingehen zu lassen, da sie nur dazu führe, die Klinik zu diskreditieren.“ Die Zustände im Haus waren schlecht. Hygienestandards gab es nicht.

Überliefert ist die Szene, in der der Arzt eine Pflegerin dabei beobachtete, wie sie einem Säugling mit einer benutzten Windel die Nase putzte. Sein Ziel stand fest: Möglichst viele Säuglinge sollten überleben. Das Pflegepersonal hielt er an, sich nach jedem Patientenkontakt ordentlich die Hände zu waschen. Jedes Baby bekam beim Füttern mit dem Fläschchen ein eigenes Saughütchen, das nach dem Benutzen ausgekocht wurde. Er holte Ammen an die Klinik, damit auch eine natürliche Ernährung möglich war, wenn die Mütter damit Probleme hatten. Für die Kinder war der Arzt, den Kollegen als kinderlieb und warmherzig beschrieben, ein Segen.

Arndt Borkhardt steigt von der Klappleiter. Der Moment der Enthüllung der Urne ist gekommen. Eine Ecke des schwarzen Tuchs hält nun ein Heubner in der Hand – Rainer-Wolfgang Heubner. Der Berliner Radiologe ist Ottos Urenkel. Bei der Übergabe der restaurierten Urne wollte er dabei sein.

Der Geist des Urgroßvaters lebt in der Familie fort, in der es zahlreiche Ärzte gibt. „Während des Medizinstudiums hat es schon ein wenig genervt, dass ich immer wieder auf den berühmten Vorfahren angesprochen wurde“, sagt der heute 72-Jährige und lächelt. Bei ihm zu Hause, erzählt er, hängt eine große Ahnentafel, die die Verwandtschaft ab dem 16. Jahrhundert zeigt.

Die verzweigten Arme der Ahnentafel reichen seit einigen Jahren auch wieder bis nach Dresden – zu Georg Heubner. Er ist Chefarzt für Kinder- und Jugendmedizin am Städtischen Klinikum in Dresden-Neustadt. Seinem Ur-Ur-Großonkel Otto Heubner hätte das gefallen. Auch Georg Heubners Eltern waren Ärzte. „Es scheint wahrscheinlich wirklich irgendwie am Namen zu liegen“, sagt er.

Dass der nicht nur in Deutschland ein Begriff ist, erfuhr er vor vielen Jahren während eines Aufenthalts in den USA. Ein dortiger Chirurg sprach ihn auf seine Verwandtschaft an. Wie er darauf kam? Die Heubner-Arterie im Gehirn ist nach Otto Heubner benannt.