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Großer Bahnhof

Seit 170 Jahren ist Görlitz per Eisenbahn erreichbar. Fernverkehr ließ die Stadt aufblühen. Heute geht es regionaler zu.

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© Sammlung Wilfried Rettig

Von Wilfried Rettig

Görlitz. Als 1837 in Görlitz die erste Dampfmaschine rattert, beginnt auch hier das industrielle Zeitalter. 1841 konstituiert sich ein „Verein zur Wahrnehmung der Interessen der Stadt Görlitz bei Anlegung einer Eisenbahn zwischen Breslau und der Elbe“. Doch es bleibt bei Plänen und Erklärungen, bis die Alarmglocken läuten: Die Berlin-Frankfurter Eisenbahngesellschaft eröffnet 1842 ihre Strecke, womit der Schienenstrang in Richtung Schlesien näher rückt. Die Konzessionserteilung vom 7. Januar 1842 für eine Verbindung Breslau – Liegnitz – Görlitz an die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahngesellschaft (NME) verdeutlicht das Wohlwollen des preußischen Königs. Am 27. November 1843 erhält die NME die Konzession für die Weiterführung der Frankfurter Strecke nach Breslau mit einer Zweigbahn nach Görlitz.

Die älteste Zeichnung des ersten Görlitzer Bahnhofes zeigt links einen abfahrbereiten niederschlesischen Zug nach Kohlfurt und rechts die sächsischen Gleisanlagen.
Die älteste Zeichnung des ersten Görlitzer Bahnhofes zeigt links einen abfahrbereiten niederschlesischen Zug nach Kohlfurt und rechts die sächsischen Gleisanlagen. © Sammlung Wilfried Rettig
Der Görlitzer Viadukt steht seit 1846. Noch heute dient er unermüdlich dem Eisenbahnverkehr über die Neiße.
Der Görlitzer Viadukt steht seit 1846. Noch heute dient er unermüdlich dem Eisenbahnverkehr über die Neiße. © Sammlung Wilfried Rettig

Am 12. Dezember 1844 kauft die NME die Strecke Berlin – Frankfurt vom bisherigen Betreiber für vier Millionen Taler. Inzwischen schreitet der Bahnbau von Breslau aus zügig voran. Mit der Fertigstellung des letzten Abschnittes Bunzlau – Frankfurt kann die Gesamtstrecke am 1. September 1846 eröffnet werden. Auch die Zweigbahn Kohlfurt – Görlitz nimmt Gestalt an, doch ein so gewaltiger Viadukt wie die Neißebrücke dauert seine Zeit. Im Juli 1844 beginnen hier die Pfeilergründungen im Neißebett, mehrmals durch Hochwasser und Eisgang unterbrochen. Im Juli 1846 berichtet der „Görlitzer Anzeiger“ über die Eröffnung der Sächsisch-Schlesischen Eisenbahn (SSE) zwischen Dresden und Bautzen.

Am 9. November 1846 befährt erstmals die Lokomotive „Brandenburg“ die Neubaustrecke Kohlfurt – Hennersdorf, wo ein Interimsbahnhof errichtet wird. Bis zur Fertigstellung des Neißeviaduktes eröffnet die NME am 15. November die Strecke ab Hennersdorf. Zu einem Festakt gestaltet sich die Versetzung des Schlusssteins am Viadukt am 26. Juni 1846. Am 7. August rollt auch in der Neißestadt das erste Dampfross ein. Es ist die „Lusatia“ der SSE, mit der Oberingenieur Krause eintrifft und mit Hochrufen empfangen wird. Der Neißeviadukt zeigt sich erstmals ohne Gerüst. Das 475 Meter lange und 35 Meter hohe Bauwerk mit 30 Bögen aus rötlichem Granit und einer Balustrade aus hellem Sandstein wird bewundert. Unterdessen baut man mit Hochdruck an der NME-Strecke. Der Durchstich bei Leopoldshain wird mit Pulverschüssen frei gesprengt. Am 26. August ist die Strecke fertig. Noch am selben Abend trifft auch die erste Lokomotive der NME in Görlitz ein und wird stürmisch begrüßt, während von den beiden Türmen des Empfangsgebäudes die preußischen und sächsischen Fahnen wehen.

Am 1. September 1847, einem Mittwoch, wird die Strecke Kohlfurt – Görlitz der NME zeitgleich mit der SSE-Linie Görlitz – Dresden der Öffentlichkeit übergeben. Die SSE ist technischer Vorreiter, denn auf ihr dient bereits der elektromechanische Telegraf zur Nachrichtenübermittlung. Die NME nutzt noch optische Signale, sogenannte Semaphoren, zum Beispiel am Blockhaus. Doch auch sie verlegt im Folgejahr die Telegrafenleitung. Für den preußisch/sächsischen Gemeinschaftsbahnhof Görlitz sind getrennte Anlagen vorgesehen. Aus Kostengründen einigt man sich jedoch auf ein gemeinsames Empfangsgebäude. Auftraggeber und Bauausführender ist die NME, sodass es nicht verwundert, dass die Vorderfront mit den beiden Türmen und dem Haupteingang in Richtung Kohlfurt weist, zumal die Architektur dem heute noch in Kohlfurt (Wegliniec) vorhandenen Bahnhofsgebäude ähnelt.

Jede Bahnverwaltung besitzt ihre eigenen Güter-, Lok- und Wagenschuppen. Alle Bahnanlagen sind ebenerdig angelegt. Es gibt weder Fußgänger- noch Straßentunnel. Bahnwärter bedienen die Schranken an niveaugleichen Überwegen in Höhe der heutigen Jakob- und Salomonstraße. Das Empfangsgebäude befindet sich in Insellage zwischen den Gleisen der SSE auf der Stadtseite und der NME auf der Südseite. Die Gleisanlagen der beiden Bahnverwaltungen enden jeweils auf Drehscheiben. Lokomotiven fahren grundsätzlich mit dem Schornstein voran, zumal sie noch kein Führerhaus für den Wetterschutz des Personals besitzen. Noch ungemütlicher und gefährlicher ist die Arbeit der Bremser, die ungeschützt oben auf den Bremsersitzen der Wagen auf Pfeifsignale des Lokführers die Handbremse anziehen oder lösen.

Eine Vorhalle führt in das Empfangsgebäude. Die mittlere Halle ist mit Portier, Polizei, Fahrkartenschalter und Gepäckexpedition belegt. Von hier aus gelangt man zu den beiderseitigen Bahnsteigen ohne Überdachung und zu den Wartesälen im hinteren Teil. Die Toiletten sind außerhalb des Hauptgebäudes angeordnet.

Auf dem Bahnhofwestkopf dient ein Verbindungsgleis zur Übergabe von Güterwagen. Wagen werden grundsätzlich per Hand rangiert. Reisende über Görlitz hinaus müssen hier umsteigen und brauchen zur Legitimation eine Passkarte für den Grenzübertritt. Wenige Wochen nach der Bahnhofseröffnung richtet man am 15. Oktober 1847 ein Bahnhofspostamt ein. Zwischen Salomon- und Jakobstraße ist die Bahnhofstraße begradigt und halbwegs befestigt, nicht jedoch gepflastert. Westlich und östlich davon sowie auf der Südseite (heutige Sattigstraße) verlaufen nur Feldwege. Die Packhofstraße, spätere Berliner Straße, ist noch ohne Bedeutung. Drei Jahre nach dem Bahnanschluss entsteht 1850 an der Ecke Bahnhof-/Salomonstraße der städtische Packhof, in dem Kaufleute unverzollte Waren zwischenlagern können.

Den Reiseverkehr bewältigen täglich vier Zugpaare beider Bahngesellschaften. Trotzdem schreibt die NME in den ersten drei Betriebsjahren rote Zahlen, sodass die in der Konzession festgelegte Staatsübernahme ab 1850 wirksam wird. Aus der bisherigen Verwaltung entsteht ab 21. August 1852 die Königliche Direktion. Auch die SSE geht am 31. Januar 1851 in sächsisches Staatseigentum über. In den Folgejahren beweist die Eisenbahn, dass ihr die Zukunft gehört. Steigende Zugfrequenz und die Einmündungen der Schlesischen Gebirgsbahn in Moys (1865) sowie der Berlin-Görlitzer Eisenbahn (1867) bringen den Bahnhof an die Belastungsgrenze und führen zum ersten großen Umbau 1869, und weitere sollten noch folgen.