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Gottes Hand in der Silberschüssel

Nach alter Zeremonie werden in jedem Mai in Herrnhut Bibelsprüche ausgelost, um damit Christen in aller Welt zu versorgen. Die Ziehung der Losungen soll aber keine Lotterie sein.

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© Thomas Kretschel

Von Sven Siebert

Corina Halang räuspert sich leise. „Wir starten das Losungsziehen“, sagt sie an diesem bewölkten Frühlingsmorgen, „mit dem 1. Januar 2018.“ Erdmann Becker greift in die silberne Schale, die vor ihm auf dem großen, ovalen Tisch steht. Der Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine nimmt einen schmalen abgegriffenen Streifen in die Hand und liest vor. „190“, sagt er. „190“ wiederholt Corina Halang. „190“, sagt nun auch der zweite Zieher, Andreas Tasche, und schlägt in einem blau gebundenen Buch mit dem Titel „Spruchgut Losungen“ die Nummer 190 nach. Er nennt eine zugehörige Bibelstelle mit Buch, Kapitel und Vers. Frau Halang notiert. Dagmar Zachmann, eine weitere Protokollantin, führt zur Sicherheit eine zweite Liste. Es darf kein Fehler passieren. Mit fester Stimme liest nun Bruder Andreas Tasche den Spruch vor.

Im weiß getünchten Sitzungssaal des Vogtshofs zu Herrnhut findet die Ziehung statt. Eine ernste Angelegenheit, bei der manchmal sogar die Telefonnummer Gottes gezogen wird.
Im weiß getünchten Sitzungssaal des Vogtshofs zu Herrnhut findet die Ziehung statt. Eine ernste Angelegenheit, bei der manchmal sogar die Telefonnummer Gottes gezogen wird. © Thomas Kretschel

Am 1. Januar 2018 wird diese alttestamentarische Bibelstelle im Büchlein der Herrnhuter Losungen zu lesen sein. Jedes Jahr an dem Mittwoch, der dem 3. Mai am nächsten ist, treten zwei Zieher und zwei Protokollantinnen im weiß getünchten Sitzungssaal des Vogtshofs zu Herrnhut zusammen und bestimmen die Losungen für einen neuen Jahrgang. Vier Menschen wählen Sprüche für jeden Tag. Vier Menschen sitzen um den großen Tisch und die silberne Schale. Vier Menschen ziehen, ordnen und protokollieren kleine Nummernzettelchen. Ist auch Gott anwesend?

Das Buch mit den Herrnhuter Losungen erscheint seit bald drei Jahrhunderten Jahr für Jahr. In mehr als 50 Sprachen. Allein die deutschsprachige Auflage übersteigt die Millionengrenze. Inzwischen gibt es auch eine Smartphone-App. Die Losungen aus dem kleinen Örtchen in der Oberlausitz sind ein weltweiter Exportschlager – ebenso wie die bekannten papierenen Weihnachtssterne mit den spitzen Strahlen.

Die Losungen stammen nicht vom Zentralkomitee einer Partei, sie werden auch nicht von der Direktion der Brüdergemeine, auch Brüder-Unität genannt, ausgegeben. Sie stammen aus der silbernen Losschale im Vogtshof, dem Verwaltungsgebäude der Brüder-Unität, das 1730 im Stil des Herrnhuter Barock errichtet wurde. Von dort werden Millionen Christen weltweit mit einem täglichen Bibelspruch versorgt. Zahllose Pfarrer, Diakone oder Jugendgruppenleiter lassen sich von der Tageslosung inspirieren, wenn ihnen für die nächste Andacht oder den Gottesdienst nichts einfällt.

„Sprüche 15; 17“, ruft Bruder Tasche. Es ist ein Los für den März 2018. „Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass.“ Tasche freut sich. Er mag den Bibelspruch. Das Ziehen der Lose ist eine ernste Angelegenheit, die Gewissenhaftigkeit verlangt. Aber es ist auch eine heitere Sache, weil die Bibel viele überraschende Textstellen bereithält und diese auf immer neue Weise über ein Jahr verteilt werden. Gut 1 100 Lose sind in der Silberschale, gut 700 „ruhen sich aus“, sie sind nach ihrer Ziehung für zwei Jahre aus dem Rennen, damit sich die Sprüche nicht zu oft wiederholen.

Das Losen, das ist so eine Herrnhuter Sache. Aber es ging nicht mit den Bibelsprüchen los. Die stellte Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch nach herrschaftlichem Gutdünken selbst zusammen. Er gab Losungen aus, Parolen für jeden Tag. Zinzendorf war so etwas wie der religiöse Führer der Herrnhuter Brüdergemeine – einer Gemeinde, die sich bis heute althergebracht ohne „d“ schreibt. Er nahm 1722 eine rund 300-köpfige Gruppe Exilanten aus Mähren auf – pazifistische Protestanten, die vor religiöser Verfolgung in die Oberlausitz geflohen waren. Zinzendorf galt als „fröhlicher Pietist“, ein heiterer Vertreter einer strengen Bewegung. „Wo andere zum Kreuz hinken, da tanzen wir“, soll er gesagt haben. Er gab den Flüchtlingen eine Heimat und versprach ihnen ewige Freiheit von Leibeigenschaft – während seine Erbuntertanen weiter Frondienst für ihn leisten mussten.

Diese Ungleichbehandlung, die Verschiedenheit von Eingeborenen und Zugezogenen, sie scheint ein bisschen die drei Jahrhunderte überdauert zu haben. Herrnhuter gelten noch heute in der Umgebung als ein wenig hochnäsig. Bei aller Gemeinschaftlichkeit, bei aller Nächstenliebe und auch bei aller internationalen Orientierung der Unität sind die Herrnhuter eine Art Fremdkörper in ihrer Heimat geblieben. Und während die benachbarten Berthelsdorfer oder Strahwalder das Oberlausitzer „r“ auf landestypische Weise rollen, sprechen die Herrnhuter Schwestern und Brüder Hochdeutsch.

„Ist das eine Drei? Oder eine Acht?“ Bruder Becker ist sich nicht sicher. Für manche der alten Losstreifen braucht man eine grafologische Expertise. Das Grafenpaar Zinzendorf und Comenius blicken ernst aus ihren Bilderrahmen. Denn es kommt natürlich darauf an, ob nun die 493 oder die 498 gezogen wurde. Man berät sich. Bruder Tasche plädiert für Drei. Man wird sich einig. Und nun wird Psalm 7, Vers 2 vorgetragen: „Auf Dich, mein Herr, traue ich…“ – im Zweifelsfall auch grafologisch.

Zinzendorf vertraute vor 290 Jahren auf die christliche Friedfertigkeit der Neuankömmlinge und musste nach einiger Zeit feststellen, dass sie über viele Fragen der Gemeindegründung in heftigen Streit geraten waren. „Die Luft war am Dampfen“, sagt Schwester Erdmute Frank, die als Gästepfarrerin Besucher durch Gebäude und Geschichte der Brüder-Unität führt. Zinzendorf sei damals als „eine Art Mediator“ aufgetreten. Und einer der Schritte, die zur Beruhigung beitragen sollten, sei die Ausgabe eines täglichen Bibelspruches an alle gewesen, der den Gemeindegliedern Gemeinschaft vermitteln und religiöse Orientierung geben sollte.

Gelost hat Zinzendorf selbst nicht. Die ordnungsgemäße Ziehung der Bibelsprüche entstand erst nach seinem Tod. Weil Gott auch den Herrnhutern nicht immer auf deren Gebete antwortete, kam die Brüdergemeine auf das Verfahren, schwierige Fragen durch einen göttlichen Losentscheid zu beantworten.

Als die Herrnhuter 1732 mit ihrer weltweiten Missionsarbeit begannen, ließen sie Lose über die Eignung der künftigen Missionare entscheiden. „Soll Leonhard Dober nach St. Thomas gehen?“ fragte die Brüdergemeine. Man zog eines von drei Losen – ein Zettelchen mit Ja, eines mit Nein, eines leer – und Dober reiste als einer der ersten Herrnhuter Missionare in die Karibik. Das Losen galt als Gottes Antwort – schwarz auf weiß. Heute gibt es weltweit eine Million Brüder und Schwestern, die sich auf die Herrnhuter Gemeine berufen – die meisten von ihnen in Tansania, aber nur 550 in Herrnhut selbst.

Aber die Brüder und Schwestern von Herrnhut kamen von der Loserei ab, wohl auch, weil Gott nicht immer die genehmen Antworten gab. Die Brüder-Unität machte die gemeinschaftliche Entscheidung nach ausführlicher Debatte zum Prinzip. Kein Einzelner entscheidet, kein Bischof und kein Papst. Bis heute lebt man in dem Glauben, dass Gott in solchen Diskussionen zu Wort kommt.

Psalm 50, Vers 15. „Die Telefonnummer Gottes!“ sagt Andreas Tasche. Das ist ein alter Theologenwitz. Psalm 50, Vers 15 lautet nämlich: „Rufe mich an in der Not …“

Hier an diesem Mittwochmorgen im Vogtshof, im schlichten Sitzungssaal in der ersten Etage – ist hier Gott, dessen Vorwahl man nicht kennt und der leider viel zu selten ans Telefon geht, anwesend und führt er den Brüdern Tasche und Becker die Hand beim Ziehen der nummerierten Zettelchen aus der Silberschale? Blickt er den Protokollantinnen Halang und Zachmann beim Protokollieren über die Schulter?

Anwesend? Ja, antworten alle Brüder und Schwestern, die man danach fragt. Natürlich, schon weil Gott nach dem Glauben der Herrnhuter immer anwesend ist. Man möchte aber nicht den Eindruck vermitteln, dass es sich beim Losen der Bibelsprüche um eine Art christlichen Hokuspokus handelt. Kein Voodoo, keine religiöse Magie. Aber irgendwie scheint der liebe Gott nach Überzeugung der Herrnhuter seine Hand doch in der Silberschüssel zu haben.

„Ich denke, dass Gott dabei ist“, sagt auch Erdmute Frank. „Das ist keine Lotterie, kein Glücksspiel.“ Der Herr gebe das Wort für den Tag, das der Mensch brauche – auch wenn dieser Tag erst in drei Jahren kommt. Ja, sagt Schwester Frank, „daran glaube ich.“