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Gnadenfrist für elektrischen Reiter

Mit „Betra 10053“, einer Betriebs- und Bauanweisung, begann im Januar diesen Jahres der Abriss der alten Stellwerke in Görlitz. Damit fiel W3, das vor 10 Jahren sanierte Gebäude am Gleis 3/4, als Erstes dem Abriss zum Opfer.

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Von Steffen Reitinger

Mit „Betra 10053“, einer Betriebs- und Bauanweisung, begann im Januar diesen Jahres der Abriss der alten Stellwerke in Görlitz. Damit fiel W3, das vor 10 Jahren sanierte Gebäude am Gleis 3/4, als Erstes dem Abriss zum Opfer.

Auch das Stellwerk W2 ist mittlerweile Geschichte, und W8 soll folgen. B5 hat zurzeit noch eine „Gnadenfrist“, doch durch den Brandschaden (November 2002) sieht es auch hier düster aus. Ein Erhalt rückt in weite Ferne, der Zustand der noch vorhandenen Technik ist sehr kritisch und deren Aufarbeitung für einen Erhalt sehr schwierig.

Reiterstellwerk ließ größere Stellstrecken zu

Im Jahre 1916 gingen die elektromechanischen Stellwerke vom Typ Siemens & Halske (Einreihenhebelwerk) in Betrieb. Die Bezeichnung der Stellwerke setzte sich damals aus dem Ort und einer Lagebeschreibung (Himmelsrichtung, vorderer /hinterer) zusammen. Es handelte sich hierbei um eine Stellwerksform (Kraftstellwerke), bei der die Fahrstraßen mechanisch verriegelt und die Weichen und Signale über elektrische Antriebe gestellt wurden, die Überwachung erfolgte bei dieser Bauform mittels Farbscheiben. Die in Görlitz verwendete Bauform 1907/12 wies gegenüber anderen Bauformen einige Besonderheiten bei der Anordnung der Farbscheiben sowie bei mechanischen Teilen im Hebelwerk auf.

Bei Gt (B5) und Got (W2) handelte es sich um so genannte Reiterstellwerke, das heißt, dass der Stellwerksraum ein bzw. mehrere Gleise überspannt. Die Übersicht für die Bediener verbesserte sich, man sparte Platz, und durch die elektrischen Antriebe konnten größere Stell-Entfernungen überbrückt werden. Alle Gebäude waren nicht nur Zweckbauten sondern prägten entscheidend das Bahnhofsbild mit.

Kriegszeit hinterließ starke Wunden

Besonders die Kriegsjahre haben auf dem Bahnhof tiefe Wunden hinterlassen, das zweite Gleis wurde als Reparationsleistung abgebaut, und später wurde auch die Oberleitung entfernt, da die Bahnstromwerke in Oberschlesien durch Kriegseinwirkung zerstört waren. Aber dies war nur ein Grund, Görlitz selbst wurde durch die neue Grenzziehung zur geteilten Stadt. Der im Westen gelegene Bahnhof Görlitz und der Güterbahnhof Schlauroth wurden damit vom restlichen schlesischen Netz abgetrennt. Allein die Stellwerkstechnik überdauerte.

Gültige Stellwerksnamen wurden 1960 vergeben

1960 bekamen die Stellwerke ihre heute noch gültigen Namen entsprechend ihrer Funktion. Gt hieß fortan B5 (Befehlsstellwerk 5) und die Wärterstellwerke wurden zu W2 (Got = Görlitz Ostturm), W3 (Gnt = Görlitz Nordturm) und W8 (Gwt =Görlitz Westturm). Die Zählung begann im Osten fortlaufend Richtung Westen, freie Nummern hatten damals Handweichen/Schrankenposten inne, die mit R begannen.

Im selben Jahr noch lobte die Verkehrshochschule „Friedrich List“ in Dresden die Weitsicht der damaligen Ingenieure und den Bahnhof Görlitz als Musterbeispiel für einen rationellen Betriebsablauf.

In den folgenden Jahren gab es viele Umbauten, so wurden einige Formsignale durch Lichtsignale ersetzt, die Signalbrücke verschwand, der Bahnhof erhielt eine Propanweichenheizung, im Februar 1984 wurde der Streckenblock umgebaut, die alte Gleisfreimeldeanlage auf Gleis 5 wurde erneuert, Weichenverbindungen wurden entfernt. Das Kernstück, die elektomechanischen Stellwerke, blieben in ihrer Funktion davon aber unberührt.

Der Fahrdienstleiter B5 war für den kompletten Betrieb (Befehlsgewalt) auf dem Bahnhof verantwortlich bediente selbst acht Signale und disponierte bei Verspätungen. Dem Weichenwärter B5 oblagen 26 Weichen einschließlich der gesamten Rangierbewegungen. Der Bereich des Wärters W2 umfasste einmal über 44 Weichen, und auch das Rangieraufkommen war enorm (stets zwei Rangierloks Personenzugseite/Waschanlage).

W8 war an allen Zug- und Rangierfahrten, die über den Westkopf des Bahnhofes liefen, beteiligt. Rege war auch der Verkehr im Bereich R7 und R9 (Bahnbetriebswerk) bei der Triebfahrzeugübergabe. Die anderen Posten R1, R4 (Schranke bei W3 und Steuerhof), R6 (Westseite) waren in den vergangenen Jahren nicht mehr in Betrieb, nur die Gebäude oder wenigstens einige Gebäudeteile erinnern noch an sie.

Gravierende Änderungen nach der Wende

Die Jahre nach der Wende führten im Güterverkehr zu gravierenden Veränderungen, und das Frachtaufkommen sank drastisch gegen null. Der dem Bahnhof Görlitz vorgelegene Rangierbahnhof Schlauroth wurde am 10. Januar 1994 stillgelegt. Nur die für den Zugbetrieb erforderlichen Stellwerke B6 (Richtung Dresden) und Svt (Abzweigstelle in Richtung Berlin) blieben in Betrieb.

Die Technik von B6 entsprach der Bauform Müller & May, jener Eisenbahnsignalbauanstalt, die bis 1922 ihren Sitz im hiesigen Görlitz-Rauschwalde (Elektroschaltgerätewerk) hatte. Es war ein langsamer Tod, den Schlauroth starb. Immer wieder griff man bei Umleitungsbetrieb auf die Ausweichmöglichkeit Schlauroth zurück, besetzte zeitweise die benötigten Stellwerke, und sogar die Sicherungsanlagen wurden nach der Stilllegung angepasst. Besonders W3 in Görlitz bekam diese Einschnitte im Güterverkehr zu spüren. Hier wurden die Überführungen gebildet und aufgelöst sowie die Frachten bereitgestellt. Im Steuerhof und auf der Westseite (Kohlehandel) kam es zum Sperren von Gleisen, und durch Trennschnitte wurden sie unbefahrbar gemacht.

Sanierung war nochmal eine kleine Sternstunde

Eine Sternstunde für das altehrwürdige B5 war die 1993 durchgeführte Sanierung der Fassade und die Neudeckung des Daches, aber hier lastete schon eine ungewisse Zukunft auf dem Stellwerk. Selbst die alte Schwerkraftheizung (Zimmerstedt, Breslau) wurde durch eine moderne Gasheizung ersetzt. 1996 feierte unser „Veteran“ seinen 80. Geburtstag in aller Stille. Bereits 1995 begannen die ersten Planungen für den Bau des zukünftigen elektronischen Stellwerkes (ESTW). Grund dafür war sicher nicht nur die im Vorfeld erteilte beschränkte Betriebserlaubnis des EBA (Eisenbahn-Bundesamt) mit ihren Auflagen.

Das Ankündigen und die Geschwindigkeitsbeschränkungen im Bahnhof sprachen eine deutliche Sprache, und seit dem 23. Juni 1994 war die Signalabhängigkeit durchgehend aufgehoben. Arbeiten wurden auf Notwendigkeiten beschränkt, schon zu DDR-Zeiten war ein Zentralstellwerk für Görlitz im Gespräch. Dies schlug sich in den anstehenden Wartungsarbeiten nieder, man beschränkte sich zusehends auf Reparaturen. Schließlich begannen 1998 die erforderlichen Umbauarbeiten für das ESTW und besiegelten das Ende der bestehenden Stellwerke. Am 25. Juni des Jahres 2000 wurde die alte Technik komplett durch Rechentechnik ersetzt. Von einst über 110 Weichen- und Antrieben sind nur knapp über 30 Antriebe geblieben. Bleibt abzuwarten ob B5 im Jahre 2006 den 90. Geburtstag im Ruhestand erleben kann, oder ob auch dieser Zeitzeuge unwiderruflich verloren geht.

Literaturtipps: „Eisenbahnknoten Görlitz“, W. Rettig (ISBN 3-882-55564-5) und „Stellwerke“, E. Preuß (3-613-71196-6). Internet-Homepage zum Stellwerk B5: www.reitinger.privat.t-online.de/b5/b5.htm