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„Gewalt verschwindet nicht von selbst“

Schreien, schlagen, Geschirr werfen: In erschreckend vielen Partnerschaften eskalieren Konflikte. Doch es gibt Hilfe.

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© M. Gambarini/dpa

Von Annett Heyse

Besucher des Weißeritzparks werden am Donnerstag ab 16 Uhr von brennenden Kerzen empfangen. Allerdings ist dies keine vorgezogene Advents-Offensive, sondern eine Aktion des Netzwerkes gegen häusliche Gewalt. Mit 286 Kerzen wollen sie an all die Fälle erinnern, die 2016 bei der Polizei angezeigt wurden. Die Dunkelziffer sei deutlich höher, sagen Experten. Viele Betroffene – darunter auch Männer – erleiden jahrelang psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt, bevor sie Hilfe suchen, berichten Sandra Schröter und Annett Kobisch. Schröter leitet ein Frauen- und Kinderschutzhaus, dessen Adresse aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss, Kobisch führt eine Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Sie sagen: Sucht Hilfe, verdrängt das Problem nicht, schaut nicht weg.

Annett Kobisch (links) leitet die Beratungsstelle gegen häusliche Gewalt in Pirna. Sandra Schröter ist Leiterin des Frauen- und Kinderschutzhauses des Arbeiter-Samariter-Bundes Königstein.
Annett Kobisch (links) leitet die Beratungsstelle gegen häusliche Gewalt in Pirna. Sandra Schröter ist Leiterin des Frauen- und Kinderschutzhauses des Arbeiter-Samariter-Bundes Königstein. © Daniel Schäfer

286 Fälle im gesamten Landkreis im vergangenen Jahr – das klingt jetzt nicht nach einem großen gesellschaftlichen Problem.

Kobisch: Oh, sie glauben gar nicht, wie häufig Gewalt in der Partnerschaft, zwischen ehemaligen Partnern oder auch zwischen erwachsenen Kindern und deren Eltern vorkommt. 2004 gab es eine Studie in Deutschland, da wurden 10 000 Frauen befragt. Jede Vierte gab an, dass sie in einer früheren oder gegenwärtigen Beziehung Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden ist. 2014 gab es eine weitere Studie, dieses Mal wurde die Erhebung in ganz Europa gemacht und dabei zusätzlich auch nach psychischer Gewalt gefragt. Da gab sogar jede dritte Frau an, so etwas schon einmal erlebt zu haben.

Schröter: Ich leite seit fast zehn Jahren das Frauen- und Kinderschutzhaus im Landkreis. In der Zeit habe ich 209 Frauen und 234 Kinder betreut. Gewalt kommt in vielen Facetten und in allen Gesellschaftsschichten vor. Es sind nicht nur die Hartz-IV-Empfänger, die zuschlagen – das ist ein völliges Klischee. Das betrifft alle Bildungs- und Einkommensschichten, häusliche Gewalt gibt es in allen Kulturen und Religionen.

Wenn Sie von häuslicher Gewalt reden, wo fängt das an und sind nur Frauen betroffen?

Schröter: Wir unterscheiden zwischen psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt. Am schwersten zu greifen ist die psychische Gewalt. Drohungen, Druck, Beleidigungen, Abhängigkeit passieren schleichend, von Außenstehenden meist unbemerkt. Nach außen hin ist alles schick, im Inneren zermürbt es die Betroffenen. Und was körperliche oder sexuelle Gewalt bedeuten, müssen wir hier nicht erklären. Schubsen, schlagen, würgen, Vergewaltigen – meistens sind die Opfer Frauen, aber mitunter auch Männer. Zudem kommt Gewalt auch in gleichgeschlechtigen Beziehungen vor.

Kobisch: Aber unabhängig von der Art – bei häuslicher Gewalt leidet die Gesundheit, das Selbstwertgefühl, die Kinder, am Ende geht es um die Existenz, ums finanzielle, soziale, körperliche Überleben. Erst, wenn der Leidensdruck zu groß wird oder Behörden einschreiten, suchen Betroffene Hilfe. Im Schnitt lösen sich Frauen nach neun Jahren aus gewalttätigen Beziehungen.

Schröter: Und nur etwa ein Drittel aller Frauen, die in einem Frauenschutzhaus Zuflucht suchen, trennt sich anschließend vom gewalttätigen Partner.

Warum halten es die Menschen so lange miteinander aus?

Kobisch: Gründe, Gewalt auszuhalten und unter den Teppich zu kehren, gibt es für die Betroffenen viele. Ich kann mal einige Beispiele nennen. Man fürchtet den Verlust des Rufes, will nichts nach außen dringen lassen. Oder man ist finanziell vom Täter abhängig. Oder man will nicht allein sein, fürchtet sich vor einer Trennung. Viele geben sich auch selbst die Schuld und denken, sie haben etwas falsch gemacht, müssen besser werden, den Partner besser zufriedenstellen.

Schröter: Es gibt noch einen anderen Grund, warum sich Menschen aus gewalttätigen Beziehungen nicht so schnell lösen. Häusliche Gewalt passiert in Zyklen und sie ist wie eine Spirale. Streit bricht mitunter an ganz profanen Dingen aus, weil das Essen nicht schmeckt zum Beispiel. Der Täter, meist Männer, weiß sich in einer Situation nicht anders zu helfen, als Gewalt anzuwenden. Das ist ein angelerntes Verhalten, er ist nicht anders erzogen wurden. Er hat es als Kind schon bei seinen Eltern erlebt. Nach dem Gewaltausbruch entschuldigt sich der Täter, verspricht Besserung, bringt Blumen mit, lädt zum Abendessen ein – es ist Honeymoon, heile Welt, alles bestens, viele Wochen oder Monate geht es gut. Aber irgendwann nehmen die Spannungen wieder zu, der nächste Konflikt entsteht und Gewalt bricht erneut aus. Das Tragische ist, dass sich die Spirale mit der Zeit immer schneller dreht. Die Gewaltattacken kommen häufiger, die Ausbrüche werden heftiger.

Wie kommt man aus dieser Spirale heraus, als Opfer wie als Täter?

Kobisch: Eines muss allen Beteiligten klar sein – gewalttätiges Verhalten verschwindet nicht von selbst. Als Beraterin kann ich mit einem sozialen Netzwerk im Rücken für die Opfer viel tun. Dazu gehören unter anderem Kontakte zum Frauenschutzhaus, die Vermittlung von Anwälten, Beratungen zu Sicherheit, Sorgerecht für Kinder, Finanzen, Schulden, zur Sicherung des Lebensunterhalts, Suchtberatung, die Vermittlungen von Ärzten, Therapien. Letzteres gilt übrigens auch für Täter. Gewalt ist ein angelerntes Verhalten, man kann es also auch wieder verlernen. Da hilft aber kein Anti-Aggressionstraining, sondern nur eine Therapie, in der der Täter andere Strategien zur Konfliktbewältigung anzuwenden lernt und sich mit seinem gewalttätigen Verhalten auseinandersetzen kann.

Häusliche Gewalt trifft auch die Kinder, die natürlich mitbekommen, wie ein Streit zwischen den Eltern eskaliert.

Schröter: Ja, die Kinder leiden darunter sehr. Die ziehen sich die Bettdecke über den Kopf und versuchen, die Nacht irgendwie zu überleben. Und sie verdrängen die bösen Szenen, das ist eine Art Schutzmechanismus. Erst in der Pubertät wird manchen wirklich bewusst, was da eigentlich läuft. Viele Kinder aus Familien, wo immer wieder Gewalt ausbricht, halten das leider für ganz normal und neigen schnell selbst zu einem solchen Verhalten. Schreien, schubsen, Schläge – die lernen das und zeigen es auch im Spiel mit anderen Kindern. Wer beim typischen Vater-Mutter-Kind-Spiel immer wieder herumschreit, schlägt und die anderen an den Haaren zieht, der ist möglicherweise Zeuge eines solchen Gewaltausbruchs in der eigenen Familie geworden. Wenn Erzieher oder Lehrer da genauer hinschauen, können sie ahnen, was in den Familien läuft.

Aber wie soll man sich dann als Außenstehender verhalten? Was ist, wenn ich Zeuge von häuslicher Gewalt werde oder zumindest etwas ahne – sei es als Erzieher, als Nachbar, als Verwandter oder Bekannter?

Kobisch: Oft werden die Augen davor verschlossen. Viele sind sich unsicher, ob sie etwas sagen sollen, die wollen nichts lostreten. Aber das ist falsch. Gewalt sollte man zwar nicht zu lösen versuchen. Man sollte auch nicht versuchen, dazwischenzugehen oder den Täter zu überführen. Aber man soll Gewalt ansprechen. In welcher Form, das hängt von der Beziehung zum Opfer ab. Man kann sich positionieren, Informationen weitergeben, Hilfe aufzeigen.

Schröter: Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass körperliche oder sexuelle Gewalt Straftaten sind. Wenn man davon Zeuge wird, etwas mitbekommt, dann muss man die Polizei rufen. Sonst macht man sich selbst strafbar.

Kontakte: Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt: Telefon 0351 79552205, Notrufnummer Frauenschutzhaus: Telefon 03501 547160, Rettungsleitstelle: Telefon 03501 49180