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Gestandene Männer mit feuchten Augen

City, Karat, die Puhdys: Rock-Legenden stehen gemeinsam auf der Riesaer Bühne. Das ist Kult und Gänsehautgefühl pur.

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© Sebastian Schultz

Von Thomas Riemer

Riesa. Übers Alter spricht man nicht. Übers Altwerden schon gar nicht. „Toni (Krahl) ist ja inzwischen auch keine 60 mehr“, verrät Dieter „Maschine“ Birr dann irgendwann doch. Wer rechnen kann, ist eh im Vorteil: Geschätzte knapp 1000 Jahre Lebens- und 100 Jahre Bühnenerfahrung stehen da an diesem Freitag auf der Bühne der Riesaer Sachsenarena. 15 Musiker, die mit vielen Wassern gewaschen sind. „Karat, City, Puhdys – die kannten wir auch im Westen“, sagt Alfred Leißner. Der Nürnberger ist vor allem wegen der Puhdys in die Elbestadt gekommen. „Die hab ich zufällig mal in den 80er Jahren beim Pfingsttreffen – das hieß doch hier so, oder? – erlebt“, so Leißner. Und danach nie wieder aus den Augen und aus dem Sinn verloren. „Es könnte ja nun wirklich passieren, dass sie ihr letztes Jahr machen. Das wollte ich dann doch nicht verpassen“, sagt der Rentner, der sich extra aus dem Fränkischen zu seinen Bekannten nach Riesa eingeladen hat, um die Tourneestation der Rocklegenden zu erleben. Beim Betreten der Arena kann er sich ein Schmunzeln dann doch nicht verkneifen. „Ich drücke hier das Durchschnittsalter erheblich runter“, sagt er mit Blick auf zahllose Altersgenossen im Publikum. Das sitzt – entgegen allen Gepflogenheiten bei Rockkonzerten – auf nummerierten Sitzen in den Besucherblöcken oder im Parkett.

Das besondere Tattoo von Martin Roßdeutscher.
Das besondere Tattoo von Martin Roßdeutscher. © privat

Mit 43 das „Küken“

Aber nicht lange! Die ersten Enthusiasten stehen schon, als Karat-Frontmann Claudius Dreilich die Bühne betritt. Mit 43 ist er das „Küken“ unter den Altrockern. „Diese Tournee ist unglaublich. Wir hätten nie damit gerechnet, dass fast überall ausverkauft ist“, ruft er der jubelnden Menge zu. Zusammen mit seiner Band, aber eben auch mal mit Unterstützung der Kollegen von City und den Puhdys, spielt und singt er, als gäbe es kein gestern. Der „Schwanenkönig“ mit City-Geiger Georgi Gogow – es gibt kaum Schöneres! Mit „Albatros“ rüttelt Karat emotional auf. Hundertfach stimmen die Fans ein und gehen mit den Rockern „Über sieben Brücken“. Die Arena bebt. „Blumen aus Eis“ mit Dieter „Quaster“ Hertrampf von den Puhdys sei eigentlich sein Lieblingsmoment, verrät Claudius Dreilich. Dann frage er sich immer: „Was würde mein Vater sagen, wenn er wüsste, dass Karat und die Puhdys gemeinsam auftreten?“ Herbert Dreilich verstarb 2004, Claudius hat seinen Part fast nahtlos übernommen. Passend dazu: „Wenn der Abend sich zur Stille neigt“ – vereint mit Dieter Birr.

Heiser, aber nicht verschnupft

Nein, der Abend neigt sich noch nicht zur Stille. Es wird noch emotionaler. City kommt zwar nicht von „Drüben in Amerika“. Sondern nach wie vor aus Berlin. Frontmann Toni Krahl ist heiser nach dem Auftritt tags zuvor. Aber nicht verschnupft. „Ihr seht besser aus als 2014“, macht er seinem Publikum ein Kompliment. Dass sich die drei Legenden-Bands für die Tournee gefunden haben, das sei ein Glücksfall und vor allem dies: „Wir erweisen uns damit untereinander den Respekt.“ Das gibt mindestens genauso viel Beifall wie die unverwechselbare City-Musik.

Da hält es ein paar Dutzend Gäste schon nicht mehr auf den hinteren Bänken. Auch Riesas „Teufelsgeiger“ Martin Roßdeutscher stürmt spontan ganz nach vorn. Sein rechter Arm trägt ein besonderes Tattoo. „Ich bin sicher einer der größten Fans von City, habe genau die gleiche Fender-E-Geige wie Georgi Gogow und mir die Geige und die ersten Takte von ,Am Fenster‘ auf meinem Oberarm verewigen lassen“, erzählt er. Jenes Lied, das wahrscheinlich das erfolgreichste der früheren DDR ist. „Die Hymne“ nennt „Rossi“ den Song. Er hat den Hit selbst oft gespielt. 1978 zum ersten Mal beim Grundwehrdienst in der NVA-Band. Und danach noch ungezählte Male. Georgi Gogow – für den gebürtigen Sachsen-Anhaltiner Roßdeutscher mehr als nur eine Legende. Nein, das sei nicht die hohe Schule der Rockgeige, „das sind David Garrett und Vanessa Mae. Aber Georgi hat seine ganz eigene Art.“ Martin Roßdeutscher gerät ins Schwärmen und Schwelgen in Erinnerungen. Das Riesaer Konzert sei für ihn so etwas wie ein Gedenktag. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren rettete er vor einem eigenen Auftritt in Riesa einem Epileptiker möglicherweise das Leben – und verletzte sich dabei selbst sehr schwer, musste sofort operiert werden. Es war der Karfreitag 2006. Roßdeutscher kehrte Monate später auf die Bühne zurück. „Die Hymne“ in Riesa – das ist für den 58-Jährigen das Höchste. „Ich hatte Gänsehaut“, gesteht der Vollblutmusiker. „Mir sind echt ein paar Tränen gekommen.“

Und schon folgen weitere Geschichten. Mit City und Karat stand er 1985 mal auf der Bühne, für eine Aufzeichnung der „Schlagersterne 85“ in Dresden. Mit Karat-Schlagzeuger Michael Schwandt wurde im Hotel „ausgehandelt“, dass der ihm von seinem nächsten Konzert in Westberlin ein paar neue Paiste Becken für sein Schlagzeug mitbringt. „Er hat noch lächelnd gesagt, dass er keine Forumschecks dafür haben wolle – die gebe seine Frau nur wieder aus“, so Martin Roßdeutscher. Also sei er losgezogen, um Bargeld aufzutreiben – D-Mark. Umrechnungskurs zur DDR-Mark 1:10, mit etwas Glück 1:5. Bei einer Pfingstveranstaltung ein paar Jahre später durfte „Rossi“ dann mal mit seiner Band vor Karat auftreten und Schwandts „North“-Schlagzeug benutzen.

„Die Hymne“ ist verklungen, die Uhr tickt genau zwei Minuten herunter. Und da sind sie in voller Größe: die Puhdys, frisch gebackene Echo-Preisträger und seit 45 Jahren eine Institution. Jetzt ist auch Alfred Leißner nicht mehr zu halten. Keine fünf Meter entfernt von seinen Idolen postiert er sich mit Fotoapparat. „Geh zu ihr“ – er wippt im Takt. „Auf Lebenszeit“, „Wenn ein Mensch lebt“. Die Stimmung ist am Siedepunkt. „Alt wie ein Baum“ ist ohnehin ein Selbstläufer, bei jedem Puhdys-Konzert vieltausendstimmig gesungen. Als die „Eisbären“ das Halali einläuten, fliegen Papierschnipsel in den vorderen Reihen. Niemand sitzt mehr. Die Scheinwerfer erfassen ein Meer an tobenden Menschen. Alfred Leißner fotografiert ununterbrochen. Mehr als 600 Mal klickt der Auslöser.

Der letzte Akkord in der Arena

Toni Krahl kommt noch einmal auf die Bühne. Auch Claudius Dreilich. Und alle anderen. „Wir sind wir“, singen die Rock-Legenden gemeinsam mit den Fans. Für die Puhdys vielleicht der letzte gemeinsame Auftritt in Riesa. Sie haben ihren Abschied von den großen Bühnen schon gefeiert. Die „Legenden-Tour“ ist Zugabe. Dann soll endgültig Schluss sein. Der Glaube daran fällt der Vitalität der Hauptdarsteller wegen schwer. Dann doch der letzte Akkord in der Sachsenarena. Die Bühne leert sich in Minutenschnelle. Die Musiker reisen eilig ab. Zu eilig findet mancher. Techniker verstauen die Utensilien in Rekordtempo. Am nächsten Tag spielen die „Legenden“ in Erfurt.

Auch Alfred Leißner packt ein. Bis Sonntag will er noch ein bisschen Sachsen erkunden. Nach Nürnberg nimmt er ein unvergessliches Erlebnis mit. „Das war Wahnsinn hier“, sagt er müde. Er wischt verschämt eine Träne aus dem Gesicht. Die Augen sind feucht. Und sie glänzen.