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Zwei Tage alt und schon die erste OP

Baby Gustav Zenker musste kurz nach der Geburt operiert werden. Er litt an einer extrem seltenen Krankheit.

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© René Meinig

Von Julia Vollmer

Gustav-Alwin Max Hermann Ludwig Theophil Zenker ist ein besonderes Baby. Nicht nur seine vielen Vornamen unterscheiden ihn von allen anderen, sondern auch die aufregenden ersten Tage in seinem Leben. Gustav war erst 48 Stunden alt, als er operiert werden musste. Während andere Neugeborene die ersten Tage auf der Welt kuschelnd mit den Eltern verbringen, musste der Säugling in den OP. Der Kleine trank nach der Entbindung per Kaiserschnitt zwar sofort bei seiner Mama Hannelore an der Brust. Doch als er immer und immer wieder alles sofort ausspuckte, rief die Hebamme den Notarzt. Baby und Mama wurden von ihrer Heimat in der Oberlausitz in die Uniklinik verlegt. Gustav atmet merkwürdig, aus Nase und Mund musste Schleim abgesaugt werden, erzählt Papa Gert. Diagnose: fehlgebildete Speiseröhre. Nur eines von 3 500 Neugeborenen kommt mit dieser Fehlbildung zur Welt. Meist endet der obere Teil der Speiseröhre dabei in einem sogenannten Blindsack, der untere Teil verbindet den Magen mit der Luftröhre. So war es auch bei Gustav.

Schon in der Schwangerschaft verspürte Hannelore Zenker ein komisches Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Kind, diesen Gedanke wurde sie nicht mehr los. Gott wird ihnen helfen, ist sich die strenggläubige Familie sicher. Das Ehepaar Zenker ist alles andere als ein aufgeregtes Erst-Eltern-Paar. Sie haben bereits vier Kinder, als sich Baby Gustav ankündigt – den zwölf Jahre alten Eduard, die zehnjährige Hermine und die acht Jahre alten Zwillinge Friedrich und Heinrich. „Zur Feindiagnostik war ich nicht, es gab die ganze Zeit nur das ungute Gefühl“, erzählt die 30-jährige Hannelore Zenker.

Schon die Geburt war dramatisch und damit eine Hausgeburt nicht mehr denkbar. Ein Nabelschnurvorfall – hier rutscht die Nabelschnur während der Geburt vor das Baby, und die Gefahr, dass die Sauerstoffversorgung des Kindes unterbrochen wird, ist sehr hoch – zwang die Mutter zu einem Kaiserschnitt. Als Nächstes der Schock mit der Fehlbildung an der Speiseröhre. Schwierige Stunden für die ganze Familie. Die Schwiegermutter sprang ein und kümmerte sich um die vier anderen Kinder von Hannelore Zenker, während sie im Krankenhaus lag.

Gustav ist erst das sechste Neugeborene, bei dem Ärzte des Universitätsklinikums eine fehlgebildete Speiseröhre operiert haben. Die neue Technik, die sie dabei angewandt haben, heißt minimal-invasiv. Die Klinik gehört damit zu den wenigen Zentren in Deutschland, die diese Operationstechnik auch bei Babys anwenden. Das Besondere: Die Methode ist schonend für den Babykörper. Statt eines großen Schnittes im Brustkorb nutzen die Chirurgen sogenannte thorakoskopische Instrumente für den Eingriff. Diese werden über Röhrchen in den Körper eingeführt. So sind nur vier sehr kleine Schnitte nötig. Die Vorteile für die kleinen Patienten: Es gibt viel weniger Komplikationen. Knochenbrüche und Wachstumsstörungen sind seltener. Bei einer offenen OP muss die Lunge zur Seite gedrückt sowie Gewebe und Gefäße durchtrennt werden, das bleibt hier aus. Die Neugeborenen brauchen während und nach der Operation weniger Schmerzmittel und erholen sich deutlich schneller.

Die Ärzte schätzen noch einen anderen Aspekt der „Schlüssellochchirurgie“: Neben den OP-Instrumenten können sie eine kleine Kamera in den Körper einführen. Sie liefert hochauflösende Bilder. „Wir können während der Operation auf einem Bildschirm sehen, was wir tun“, so der stellvertretende Klinikdirektor Christian Kruppa.

Das Team der Kinderchirurgie nutzt das Verfahren seit fünf Jahren. „Die besondere Herausforderung bei Speiseröhren-OPs besteht darin, dass wir nur einen Versuch haben“, sagte Kruppa. Perfektion ist gefragt. Beim Eingriff müssen die Chirurgen die Naht an der Speiseröhre präzise nähen, damit sie schnell und vollständig verheilt. Die Speiseröhre darf auf keinen Fall undicht sein, sonst können Essensreste in den Bauchraum gelangen, die schwere Entzündungen verursachen.

Ein Eingriff an der Speiseröhre ist extrem selten. Jedes Jahr gibt es in Sachsen nur etwa zehn Fälle. Die Mediziner helfen sich mit einem Trick: Sie führen Probe-OPs bei kleinen Tieren durch. Der Eingriff dauert rund anderthalb Stunden. „Noch vor 50 Jahren sind alle Babys mit dieser Fehlbildung gestorben“, erklärt Kruppa.

Nach dreieinhalb Wochen in der Uniklinik durften Gustav und seine Mutter wieder nach Hause in die Oberlausitz, wo seine vier aufgeregten Geschwister warteten. Seit der Operation entwickelt sich der Junge bestens, sagen Eltern und Ärzte. „Wir sind sehr beeindruckt von dem, was die Chirurgen geleistet haben“, sagt Gustavs 63-jähriger Vater. Für die Mutter zählt vor allem, dass sich ihr Jüngster nach den Wochen in der Klinik gut zu Hause eingelebt hat: „Ich merke keinen Unterschied in Gustavs Entwicklung“, sagt sie mit Blick auf seine Schwester und seine drei Brüder, die sich liebevoll um den Neuzugang in der Großfamilie kümmern.