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Genosse fühlt sich benachteiligt

Ein Riesaer lebt seit über 50 Jahren in seiner Gröbaer Wohnung. Nun wird das Haus abgerissen.

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© Sebastian Schultz

Von Britta Veltzke

Riesa. Hermann Oberkirsch weiß noch nicht so richtig, wie er das alles schaffen soll: ein günstiges Umzugsunternehmen heraussuchen, neue Verträge abschließen, alle seine Sachen einpacken. Der 80-Jährige ist alleinstehend, fit und rüstig fühlt sich der Rentner nicht mehr. Seit über 50 Jahren lebt er in seiner Wohnung der Wohnungsgenossenschaft Riesa (WG) in der Rudolf-Harbig-Straße – anfangs noch mit Frau und Kindern. Doch der Nachwuchs ist längst ausgezogen, seine Frau starb vor ein paar Jahren. Nun muss Oberkirsch ausziehen. Das Wohnhaus wird abgerissen.

Aus Sicht der Vorstandsvorsitzenden der Wohnungsgenossenschaft Riesa, Kerstin Kluge, ist dieser Schritt unbedingt notwendig: „Leerstand verursacht für die Wohnungsunternehmen Kosten, die ab bestimmten Größenordnungen existenzbedrohend sein können. Deshalb werden wir auch in den nächsten Jahren kontinuierlich abreißen.“ Seit 2002 habe man 15 Wohngebäude komplett abgerissen und an neun Gebäuden Etagen zurückgebaut. Die Wahl war diesmal unter anderem deshalb auf den Block an der Rudolf-Harbig-Straße gefallen, weil er keine Balkone hat. „Bei der Vermietung ist das ein Defizit.“

Die WG hat Oberkirsch fristgerecht zu Ende April 2017 gekündigt. Obwohl ihm mehr Räume zur Verfügung stehen, als er bräuchte, würde er gerne bleiben. Nach all den Jahren hängt er an der Wohnung. „Wir haben eine gute Nachbarschaft. Und außerdem ist es preiswert: rund 320 Euro warm für knapp 60 Quadratemeter.“

Genossenschaftsmitglied seit 1959

Der gelernte Möbeltischler hat für die Plattenbauwohnung passgenaue Einbauschränke und andere Möbel gebaut. Auch ein Stockbett für drei Kinder gehört zu seinen Kreationen. Gearbeitet hat Oberkirsch früher allerdings nicht in seinem gelernten Beruf, sondern im Stahlwerk. „Das war zu DDR-Zeiten lukrativer“, erklärt er. Dennoch – seine Rente reiche nicht für „große Sprünge“. Er würde gern weiterhin so wenig Miete bezahlen. „Aber alle Wohnungen, die mir von der Genossenschaft angeboten wurden, waren teurer. Selbst dann, wenn sie kleiner waren.“ Der Senior hat sich nun dafür entschieden, die Genossenschaft zu verlassen und im Herbst in die Wohnung eines anderen Vermieters einzuziehen. „Dabei bin ich seit 1959 Mitglied.“ Auch in Anbetracht der Tatsache, dass er früher in 500 Arbeitsstunden auf dem Gelände der Genossenschaft in seiner Freizeit Parkplätze und Wege angelegt habe, ist er nun enttäuscht, dass er keine finanzielle Unterstützung für seinen Umzug bekommen soll. „Die Nachbarn, die in der Genossenschaft bleiben, bekommen bis zu 1 000 Euro.“ Und da er nicht fristgerecht gekündigt hat, drohten ihm zudem doppelte Mietzahlungen. Mit der Kündigung seiner alten Wohnung habe er sich bislang noch zurückgehalten. „Es ist noch nicht ganz sicher, ob das mit der neuen Wohnung wirklich klappt.“ Das Verhalten der Genossenschaft findet er ungerecht. „So kann man doch mit mir nicht umgehen. Als Genossenschaftsmitglied bin ich doch nicht irgendein Mieter“, so Oberkirsch.

WG-Chefin Kerstin Kluge sagt dazu: Ihr Ziel sei es, betroffene Mitglieder „zu halten und natürlich auch zu unterstützen“. Erste Informationen über einen geplanten Abriss gebe es immer mindestens zwei Jahre vorher. „Auch wir benötigen Zeit, um geeignete Wohnungen für die Mitglieder zu suchen und herzurichten. Wir haben 400 leer stehende Wohnungen. Wir bieten allen eine ganze Reihe von Ersatzwohnungen an“, so Kluge. Wenn ein Nutzer kündigen wolle, halte man sich an die Fristen aus den Nutzungsverträgen. In alten Verträgen betrügen diese mitunter nur 14 Tage. Was die Umzugspauschale bis zu 1 000 Euro angeht, so habe der Gesetzgeber bei Abrisskündigungen eigentlich gar keine „Entschädigungen oder irgendwelche Zuwendungen durch das kündigende Unternehmen vorgesehen.“ Nicht mal Ersatzwohnungen müssten angeboten werden.

Das könne schon sein, meint Uta Knebel vom Mieterverein Saxonia. Aus ihrer Sicht greift dafür eine Regelung aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch. „Die Wohnungsgenossenschaft hat die Pflicht, dem Mieter die Kosten zu erstatten, die ihm durch den zwangsweisen Umzug entstanden sind.“ Diese ließen sich notfalls auch einklagen. „Vor Gericht hätte die Genossenschaft da schlechte Karten.“ Dass die WG bei der Umzugspauschale Unterschiede macht, ob Nutzer in der Genossenschaft bleiben oder austreten, hält Knebel für widersprüchlich. „Zu dem Zeitpunkt des Auszugs sind sie ja alle noch Genossen. Daher sollte gleiches Recht für alle gelten.“