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Gejagtes Feierbiest

Bahnrad-Olympiasiegerin Kristina Vogel hat schon viel erlebt und ist schwer gestürzt. Erst ein gebrochener Sattel macht die Erfurterin berühmt.

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© dpa/Thomas Frey

Von Michaela Widder

Die Narben im Gesicht sind verblasst, verschwinden werden sie nie. Das ist gut so, sagt Kristina Vogel heute, weil sie immer weiß, wie schnell alles vorbei sein kann. Der 20. Mai ist ihr zweiter Geburtstag und trotzdem kein Grund, eine Party zu feiern. Am Sonntag jährt sich der Tag ihres Unfalls zum neunten Mal. Die Bahnrad-Olympiasiegerin will ihm nicht den großen Stellenwert geben, selbst wenn er sie Gutes gelehrt hat. „Wenn man wirklich etwas möchte, schafft man das auch“, sagt sie, und ihr nimmt man diesen Satz ab.

Nach dem Showauftritt beim Ball des Sports tauscht Kristina Vogel den Rennanzug gegen das Abendkleid. Wohin aber mit dem Rad?
Nach dem Showauftritt beim Ball des Sports tauscht Kristina Vogel den Rennanzug gegen das Abendkleid. Wohin aber mit dem Rad? © Getty Images/WireImage/Tristar

Als die Erfurterin Ende Mai 2009 im Krankenhaus aus dem Koma erwachte, kreisten die ersten Gedanken um ihr Rad und die Frage: Wann kann ich wieder fahren? Bei einer Trainingsausfahrt hatte ein Transporter ihr die Vorfahrt genommen; sie war in die Windschutzscheibe geflogen und hatte sich unter anderem einen Brustwirbelbruch und schwere Schnittverletzungen im Gesicht zugezogen.

„Ich hatte ganz viel Glück“, erzählt die 27-Jährige von einer Helferin am Unfallort, die sie damals nicht in die stabile Seitenlage gedreht hatte. „Hätte sie mich nur etwas falsch bewegt, wäre ich jetzt querschnittsgelähmt. Weil sich die Bandscheibe dann ins Rückenmark gedrückt hätte.“

Vom ersten Moment an kämpfte Vogel um ihr Comeback – und darum, das Geschehene zu verarbeiten. „Mit 19 Jahren hatte ich meine Dritten und musste meine Zähne abends in ein Glas legen. Wer will das schon?“ Nur zehn Monate später startete sie bei der WM – der unaufhaltsame Aufstieg der Kristina Vogel hatte begonnen. Kein anderer Athlet im Bund Deutscher Radfahrer (BDR) liefert seit Jahren so zuverlässig Titel wie die Thüringerin. Bei der WM Anfang März in Apeldoorn schloss sie zur Australierin Anna Meares auf, die ebenfalls elf Titel und zwei Olympiasiege in ihrer Vita hat. Niemand sonst hat mehr erreicht. „Ich bin jetzt die Gejagte“, weiß sie.

Vor Gericht musste sie noch lange um Schmerzensgeld streiten. Ihr Gegner war der Freistaat Thüringen, weil der Unfallfahrer ein Polizist im Dienst war. „Die Verarbeitungszeit war extrem hart und hat lange gedauert“, erzählt sie. In der Öffentlichkeit hatte sie sich eine Fassade aufgebaut, „doch bei den richtigen Fragen musste ich heulen“. Ein Mentaltrainer, mit dem sie vor ihrer Olympiapremiere 2012 zusammengearbeitet hatte, half, nicht immer dieselbe Frage zu stellen: „Warum ich?“

In London wurde Vogel dann im Teamsprint mit Miriam Welte noch „aus Versehen“ Olympiasiegerin. Bundestrainer Detlef Uibel hat schon damals gesagt: „Kristina ist unser bester Mann.“ Über den Spruch, der ihre körperliche und mentale Stärke verdeutlichen soll, kann sie lachen. Vogel, die Kniebeuge mit 167,5 Kilo schafft, ist selbst eine, die geradeaus ist, die ihr Herz auf der Zunge trägt. „Die Konkurrenten wollen dir extrem an den Eiern spielen. Jeder will mich fallen sehen. Und die Fallhöhe nimmt von Jahr zu Jahr zu.“

Diesen Druck spürte sie extrem 2016 in Rio, wo sie auf spektakuläre Weise Gold im Sprint gewann. Obwohl ihre Sattelstange am Ende des Rennens angeknackst war, ließ sich die kleine Frau mit den schnellen Beinen nicht beirren und gewann mit dem winzigen Vorsprung von vier Tausendstelsekunden die Königsdisziplin. Direkt nach der Ziellinie fiel ihr Sattel dann ab.

Erst durch diese kuriose Geschichte stieg ihr Bekanntheitsgrad enorm. Seit Rio ist sie „die mit dem Sattel“ – nein, eigentlich die ohne Sattel. „Das war doch eine gute PR-Geschichte“, meint sie mit einem Grinsen. Bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres wurde sie 2016 Dritte, in Thüringen räumt sie regelmäßig den Titel ab – und ist dort schon als Feierbiest anerkannt. „Ich bin ein Duracellhäschen und dann nicht mehr von der Tanzfläche wegzukriegen.“

Das große Geld verdient Vogel mit ihrem Sport trotzdem nicht. „Ich könnte bestimmt davon leben, aber nicht reich werden.“ Für das WM-Gold im Teamsprint gab es 625 Dollar, die sie sich mit Partnerin Welte noch teilen muss. Auf die Prämie warten sie seit März. Als „Sicherheitsmensch“ plant sie nebenbei auch ihre berufliche Karriere. Von der Bundespolizei ist die Weltmeisterin fürs Training freigestellt. Vier Wochen im Jahr muss sie hospitieren. Dann wird sie von der Gejagten auf der Bahn zur Jägerin auf dem Erfurter Bahnhof. „Ich mag es, Ansagen zu machen.“

Bis Tokio 2020 soll der Sport für die Polizeihauptmeisterin im Mittelpunkt stehen, und ihre Ziele für die nächsten Spiele werden nicht kleiner: „Drei Medaillen – und einmal ganz oben.“ Der Olympiasieg im Keirin und der EM-Titel im Teamsprint fehlen noch in ihrer Sammlung. „Privat bin ich ultralieb, mache total gern Geschenke“, sagt Vogel, aber im Sport habe sie das Gefühl, „das ist alles meine und jemand schnappt mir was weg.“ Mit einem zwölften WM-Gold im nächsten Jahr in Polen wäre sie alleinige Rekordhalterin. „Da wird einem ja ehrfürchtig vor einem selbst.“

Selbst der plötzliche Weggang ihres Heimtrainers im vorigen September warf Vogel nicht aus der Bahn. Immerhin sieben Jahre hatten sie zusammengearbeitet. Tim Zühlke war der Mensch, dem sie „blind vertraut“ habe. Dass er ein Angebot als Nationalcoach im finanzstarken China annahm, kann Vogel auch gut verstehen. Doch die Art und Weise ärgert sie noch immer. Denn von der Nachricht hatte sie aus dem „Buschfunk“ erfahren.

In den Entscheidungsprozess für einen Nachfolger hatte man Vogel mit einbezogen. Der besten Fahrerin einen Trainer vor die Nase zu setzen, hätte sich der BDR wohl auch nicht erlauben können. Im Dezember übernahm der gleichaltrige Niederländer Anner Miedema die Trainingsgruppe in Erfurt. Weil der Sport so schnelllebig sei, ist sie über ein gutes Umfeld in der Heimat froh. Mit ihrem langjährigen Freund, dem Ex-Bahnradfahrer Michael Seidenbecher, zog sie Ende 2017 in ein neu gebautes Haus – „ mein Fels in der Brandung“. Vogel weiß, wo sie herkommt, wo sie hingehört und wo sie hinwill. Sie befindet sich auf dem Weg, eine Legende zu werden.