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Geheimdienst übernimmt Gefängnis

Wer nach dem Krieg ins Untersuchungsgefängnis kam, konnte geradewegs im Gulag in Sibirien landen.

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© Klaus-Dieter Brühl

Von Birgit Ulbricht

Großenhain. Mit dem Kriegsende wechseln nicht einfach die Entscheider. Die Großenhainern finden sich stattdessen in einer anfänglichen Gemengelage wieder, in der die neuen Kräfte durchaus ihre jeweiligen Befindlichkeiten und Interessen haben. Aus den Akten, die die SZ jetzt im Staatsarchiv aufstöbern konnte, ergeben sich vielleicht auch neue Fakten für die Stadtgeschichte.

Sofort nach der Besatzung beschlagnahmen die Russen das Großenhainer Gefängnis als Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes. Das Gefängnis wird eines der berüchtigten GPU- und Folterkeller des Geheimdienstes. Gemeinsam mit den Recherchen der IG Mahnmal Großenhain ergibt sich jetzt folgende Adressliste der GPU-Folterkeller: Amtsgerichts-Gefängnis Meißner Straße 41; Deutsche Post Keller Bahnhofstraße 1; Gefängnis im Rathaus Apothekergässchen; Mehrfamilienhaus Carolastraße 9; Landratsamt und Villa gegenüber dem Landratsamt in der Herrmannstraße; Einfamilienhaus Keller, Chladeniusstraße; Fliegerhorst Kasernenkeller im Flugplatz; Landwirtschaftsschule Elsterwerdaer Straße 25 (später Sitz der Kreisdienststelle der Stasi) und der Keller der sowjetischen Stadtkommandantur Bahnhofstraße, Ecke Herrmannstraße.

Von hier führt der Weg oft geradewegs in NKWD-Internierungslager oder den Gulag nach Sibirien. Manche verschwinden auch in Großenhain, wie wahrscheinlich der Fabrikbesitzer der Wachstuchfabrik (heute Stema) Gottfried Kämpfe. Schon unter den Nazis wurde er ermahnt, weil er seine Zwangsarbeiter offenbar „zu gut“ behandelte. Für deren Beaufsichtigung wurde daher eine stramme Parteigenossin eingesetzt. Gottfried Kämpfe gereichte das später auch nicht zum Schutz. Da die Firma als Kriegsproduktion Wachstuchumhänge für Soldaten anfertigte, wurde Kämpfe am 20. Juni 1945 verhaftet und am 19. September `45 in Großenhain vom sowjetischen Militärtribunal der 16. Luftarmee der UdSSR auf dem Flugplatz zum Tode verurteilt. Es findet sich ein Eintrag „vermutlich am 1. November 1955 erschossen“. Man vermutet, dass Gottfried Kämpfe einer der 13 Toten war, die später auf dem Flugplatz gefunden wurden.

Im eigentlichen Amtsgericht nimmt die Entwicklung kurzeitig einen anderen Weg: Hier befindet sich ab `45 die „neue“ U-Haft für alle, die auf ihr Gerichtsverfahren warten, und zwar gleich neben dem Saal im Erdgeschoss. Das Provisorium steht unter Verwaltung des Landrates, der die Gerichtsbarkeit an sich gezogen hat. Ein Zustand, den Amtsgerichtsrat Groneberg vonseiten der Justiz „unhaltbar“ findet. Er beschreibt die historische Situation ausführlich in einem Brief. Es „ist unzweifelhaft, dass das Gefängnis wieder Justizgefängnis werden muss“, schreibt er. Im Moment komme der Zustand der Justiz leider entgegen. Die Gefangenen sind leidlich untergebracht, werden verpflegt und bewacht, die Kosten trägt die Verwaltung des Inneren. Groneberg mahnt aber an, es müsse dringend ein im Gefängnisdienst ausgebildeter Fachmann die Kontrolle übernehmen. Ein weiterer Bericht über ähnliche Schwierigkeiten mit der Polizei wird benannt, ist aber nicht vorhanden.

Groneberg kritisiert vor allem die Urteile des Landrates und willkürlichen Haftbefehle. „Ein Beispiel für die Qualität seiner Urteile“ wird in dem Brief als beigefügt erwähnt, ist aber in der Akte nicht mehr vorhanden. Groneberg nennt bis zu 55 Verfahren einsitzender Häftlinge, die durch den Landrat zwar initiiert, aber nicht bearbeitet wurden. „Besonders traurig war die Lage bei einer großen Anzahl von Personen, die aufgrund sehr dürftiger Unterlagen im Gefängnis eingeliefert, und teils bis zu zehn Wochen ohne jede Anhörung im Gefängnis saßen“, heißt es weiter. Fast in allen Fällen musste die Entlassung des Eingelieferten erfolgen. „Bezüglich der vom Herrn Landrat in Großenhain erlassenen Urteile und Strafbefehle habe er am 27. September 1945 mit Oberstaatsanwalt Richter in Dresden und danach mit Dr. Thust von der Landesverwaltung Justiz persönlich verhandelt. Das Ergebnis: „Es herrscht darüber Einverständnis, dass an eine Anerkennung der von dem Herrn Landrat erlassenen Strafbefehle nicht zu denken ist.“

1950 übernimmt das Ministerium des Innern wieder das alte Untersuchungsgefängnis. Das könnte auch ein Grund sein, weshalb es keinen kompletten Aktenbestand zum Großenhainer Gerichtsgefängnis gibt, vor allem keine Unterlagen zu den Gerichtsfällen. Ältere Großenhainer berichten aber davon, dass sie als Schulkinder Schauprozesse gegen Republikflüchtlinge besucht haben.

Die Unterlagen aus der Zeit des Ministeriums des Inneren gingen nach der Wende – wenn überhaupt – an das Bundesarchiv in Berlin. Dort könnten sich also noch Dokumente finden lassen. Für die Zeit von 1942 bis 1945 sind einige Häftlinge im Dresdner Archiv benannt. Die Gründe ihrer Haft, der Prozess oder gar das weitere Schicksal lassen sich nicht nachvollziehen. Trotzdem sollen einige genannt sein, vielleicht gibt es Angehörige, die selbst schon jahrelang nach Akten suchen: Karl Werner, Fabrikant aus Großenhain (29. März 1949); Klara-Marie Kirst, Schaffnerin aus Großenhain (2. Juni 1943); Gustav Schulz, Werkschutzmann aus Linz (ohne Datum); Ernst Burkhardt, Landwirt aus Görzig; Arno-Martin Obenaus, Ermendorf (1. Juni 1946); Carl Oswin, Prokurist (8. Juni 1945); Edgar Böhme, Bauer aus Großenhain; Werner Richter, Arzt aus Großenhain; Oswin-Emil Jähnig, Kriminal-Sekretär aus Nauleis; Paul Köhler, Betriebsleiter aus Gröditz; Frieda-Bertha Rohm, Hausfrau aus Großenhain; Waldemar Holz, Amtsgerichtsrat, Georg Reinhold und Georg Langner, beide Inspektoren in Großenhain; Otto Wenig, Bürgermeister (ohne Ortsangabe); Johannes Zunkert, Generallieferant aus Kottewitz. Was ist aus ihnen geworden?

Die Personalprotokolle aus dem Gerichtsgefängnis bis 1959 wirken dagegen heute wie ein Komödienstadl. Beschrieben werden vor allem Partei-Sitzungen. Man kritisiert sich gegenseitig für seinen Klassenstandpunkt und den gegenseitigen Umgang. Genosse Bernhardt berichtet so von einer Beratung in Dresden, wo ein Vorfall aus Großenhain zur Sprache gekommen ist. Genosse Woithe habe sich in Dresden beschwert, weil ihm Genosse Profe in den Hintern getreten habe.

Am 16. Mai 1959 beruft Oberrat Protze aus Dresden in Großenhain eine Versammlung ein und verkündet die Schließung des Gefängnisses. Es wird zwar noch von einer Wiedereröffnung gesprochen, aber danach brechen alle Akteneinträge ab. Die Bediensteten sollen nach Dresden, Freital, Meißen und Arnsdorf versetzt werden. Am 11. November 1959 wird den Genossen in Großenhain noch einmal schriftlich bescheinigt, dass sie „nicht revolutionär an die Arbeit herangehen“. Der Dienststellenleiter habe nicht durchgegriffen, er habe sich „versöhnlerisch“ gegenüber den Genossen gegeben und „Schlamperei geduldet“. Mit diesem Protokoll endet die Knast-Geschichte im Dresdner Archiv.