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Gefesselt auf der Anklagebank

Der Angeklagte wird von vier Justizbeamten bewacht und muss die Handschellen während der Verhandlung tragen. Dabei geht es ums Schwarzfahren.

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© Sächsische Zeitung

Von Jürgen Müller

Meißen. Das muss ja ein ganz schlimmer Finger sein. Der Angeklagte wird aus dem Gefängnis vorgeführt, gleich von vier Justizangestellten bewacht. Er ist an den Händen gefesselt, muss die Handschellen auch während der gesamten Verhandlung tragen. „Das hat die Justizvollzugsanstalt so angeordnet“, sagt der Richter auf die Frage des verdutzten Staatsanwaltes.

Ist der 29-jährige Radebeuler, der vor seiner Inhaftierung keinen festen Wohnsitz hatte, also obdachlos war, ein Schwerverbrecher? Weit gefehlt. Die Taten, die ihm vorgeworfen werden, zählen zur Bagatellkriminalität. Der junge Mann fuhr Ende Oktober 2015, also vor mehr als zwei Jahren, mit der Straßenbahn der Linie 4 von Radebeul nach Weinböhla. Bei einer Fahrscheinkontrolle wurde festgestellt, dass er kein Ticket hatte. Erschleichen von Leistungen heißt das bei Juristen, weswegen er nun vor Gericht sitzt. Der Schaden, der durch seine Tat entstand; 2,30 Euro.

Und noch ein zweiter Vorwurf wird ihm gemacht. Ende November vorigen Jahres wird er in Dresden um Mitternacht kontrolliert. Die Polizisten finden bei ihm 0,64 Gramm Marihuana, also eine kaum wahrnehmbare Menge. Es folgt eine Anzeige wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Und nicht nur das. Die Polizei stellt fest, dass gegen den Mann ein Haftbefehl vorliegt. Denn der Angeklagte hat eine Geldstrafe nicht bezahlt. Übrigens auch wegen Erschleichens von Leistungen. Dafür wurde er zu 55 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilt. Weil er die 550 Euro nicht bezahlen kann, sitzt er die Strafe nun ab, muss für 55 Tage ins Gefängnis.

Der Radebeuler gibt die Taten unumwunden zu. Muss man gegen diesen Mann, der ohnehin schon in Haft ist, wegen zweier Bagatellen tatsächlich ein Strafverfahren durchführen? Nein, meinen Richter und Staatsanwalt. Das Gericht stellt auf Antrag des Staatsanwaltes das Verfahren ein. So hat die Verhandlung wenigstens einen kleinen Vorteil für den Angeklagten. Er kommt mal kurz raus aus dem Gefängnis. Doch warum so viel Aufwand, warum vier Bewacher, warum vor allem die Handschellen während der Verhandlung? Hat er im Gefängnis randaliert, ist er gewalttätig geworden. Nein, sagt Benno Kretzschmar, der Pressesprecher der Justizvollzugsanstalt in Zeithain, wo der Radebeuler gerade seine Ersatzfreiheitsstrafe absitzt. Die Entscheidung, ob ein Angeklagter in Handschellen vorgeführt und mit diesen auch die Verhandlung verfolgen müsse, werde danach beurteilt, ob Fluchtgefahr vorliege. Diese sei gering, wenn sich jemand selbst zum Haftantritt melde, jedoch größer bei Gefangenen, die von der Polizei zugeführt werden müssten, erklärt er. Entscheidend seien im vorliegenden Fall aber auch sein Verhalten im Vollzug und Erkenntnisse aus dem Umfeld des Angeklagten gewesen, so der Pressesprecher.

Dass gleich vier Justizbeamte im Saal waren, hatte jedoch einen ganz anderen Grund. Es wurde nämlich aus Zeithain an diesem Tag auch ein Zeuge vorgeführt, der in der anschließenden Verhandlung gehört wurde. Alle waren in einem Fahrzeug gekommen. Während der Zeuge in der Zelle im Gericht saß, nahmen seine beiden Bewacher mit ihren Kollegen im Verhandlungssaal Platz.