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Gefangen in Texas

Seine Kriegserlebnisse bestimmen bis heute Rudolf Nickols Erinnerung, auch wenn ihn das Grauen verschont hat.

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© Christian Juppe

Von Nadja Laske

Sechs Jahre beherrschen die Erinnerung. Sechs von 95 Lebensjahren. Sie haben noch heute eine so große Kraft, dass Rudolf Nickols Erzählungen tief in die Erlebnisse von einst eintauchen. Vor ihm liegt ein großer grauer Ordner. Dessen Pappdeckel halten zusammen, was von einer Welt aus den Fugen zeugt: Formulare, Briefe, Fotos, Landkarten, alte Zeitungen – Dokumente seiner Kriegsgefangenschaft.

Dass Rudolf Nickol überwiegend für Arbeiten in der Verwaltung eingesetzt war, besorgte ihn als junger Soldat.
Dass Rudolf Nickol überwiegend für Arbeiten in der Verwaltung eingesetzt war, besorgte ihn als junger Soldat. © privat
„Ruhm und Ehre“ sollten das Ziel sein.
„Ruhm und Ehre“ sollten das Ziel sein. © privat

Als Rudolf Nickol 19 Jahre alt war, erhielt er den Einberufungsbefehl zur Deutschen Wehrmacht. „Ich wollte mich eigentlich freiwillig melden, um Einfluss darauf zu haben, bei welchem Heeresteil ich eingesetzt werde“, sagt er. Weil er jedoch noch nicht 21 Jahre alt war, musste sein Vater ein Formular unterschreiben. Nach langen Diskussionen erhielt Nickol endlich das Signum. „Aber vorm Einschlafen gingen mir die Dinge noch einmal durch den Kopf, und ich dachte: Was für ein Unsinn! Sie werden schon kommen, wenn es soweit ist.“ So zerriss er das Blatt Papier und hoffte, alles bliebe beim Alten.

Sein Schulzeugnis war gut, der Vater aber arbeitslos gewesen. So hatten sich die Eltern eine höhere kaufmännische Ausbildung für ihren Sohn nicht geleistet. Genau so wenig, wie ein paar Jahre zuvor das Braunhemd für Jungvolk und Hitlerjugend. Aber dann wurde die Mitgliedschaft per Gesetz vorgeschrieben. „Mein Onkel hatte schon lange gewarnt, dass ich Probleme bekommen werde, wenn ich da nicht mitmache.“ Er gab Geld für die Uniform, und Rudolf Nickol geriet wie Tausende Jugendliche ins Nazigetriebe.

Seine Lehre in einer Dresdner Bäckereikette hatte er gerade abgeschlossen. Die Verdienste von damals weiß er noch ganz genau. Im ersten Lehrjahr hatte er 25, im zweiten 35 und im dritten 45 Reichsmark verdient. Nun als Ausgelernter standen 100 Reichsmark auf seinem Lohnzettel. Doch darüber konnte er sich nicht lange freuen, das zivile Leben endete mit der Reise nach Kiel zum Marine-Flak-Regiment. „Ich hatte erwartet, dass wir schicke Marineuniformen bekommen, aber es gab Feldgrau“, erinnert er sich. Sicher hatte er sich einen reputableren Kriegsdienst vorgestellt. Dass der gelernte Bürofachmann aber in der Schreibstube landet und später zur Scheinwerferbatterie kommt, ist der Beginn seiner Lebensrettung. Heute kann er sagen: „Ich habe Höhen und Tiefen erlebt. Aber ich hatte sehr viel Glück.“

Wenn auch nicht unbedingt Ruhm, doch immerhin Ehre wünschte sich der junge Soldat Nickol. Dafür sah er seine Zeit gekommen, als der sogenannte Blitzkrieg gegen die Sowjetunion zu scheitern drohte. Über den „unfähigen Patron“ Hitler habe man hinter vorgehaltener Hand Witze gemacht. Trotzdem waren zahlreiche junge Männer bereit, aus sichereren Positionen an die Ostfront zu wechseln. Auch Rudolf Nickol. „Ich sagte meinem Vorgesetzten, dass ich doch nicht den Krieg in der Schreibstube absitzen könne.“

Doch statt im östlichen Kriegsdesaster landete er im Süden. „Wir wurden nach Italien an die Straße von Messina verlegt, und ich erinnere mich gut, wie beeindruckt ich davon war, den Vesuv zu sehen.“ Von da ging es nach Nordafrika, wo das deutsche Afrikakorps gegen die Alliierten kämpfte. Dort erlebte Nickol im Mai 1943 die Kapitulation der verbündeten deutschen und italienischen Truppen und kam zusammen mit rund 120 000 Kameraden in britische und angloamerikanische Gefangenschaft. „Briten haben mich festgenommen und an die Amerikaner übergeben“, erzählt er. So kam der Dresdner nach New York.

Drei Jahre in den USA standen ihm bevor, ein weiteres in Großbritannien. Die Distanzen, die Rudolf Nickol während dieser Zeit zurücklegte, würden unter anderen Umständen Traumreise genannt. Der inzwischen 20-Jährige jedoch sah Pennsylvania, Ohio, Illinois, Missouri, Arkansas und Texas aus Gefangenentransporten heraus, ohne zu wissen, wo Endstation sein und was aus ihm werden würde.

Bis 1946 lebte er in verschiedenen Gefangenenlagern, die die US-amerikanische Regierung vor allem im Bundesstaat Texas errichten ließ, und arbeitete die längste Zeit in einem militärischen Trainingscamp der US-Armee. „Wir wurden gut behandelt, haben alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtet und bekamen acht Cent pro Stunde Lohn.“ Dann fügt er lapidar hinzu: „Das summiert sich auch.“ In der Erinnerung lebt der Gefangene von einst ganz fern der Heimat. „Wir haben einmal Drachen gebaut und über einem Areal fliegen lassen, wo die Amis Schießübungen machten.“ Der Jungenstreich brachte reichlich Ärger ein. Solche Anekdoten kann Nickol viele erzählen – von der Kartoffelernte bei Liverpool oder von zig Puddingschalen, in die er bei der Küchenarbeit seinen Finger steckte. Dabei lacht der 95-Jährige spitzbübisch.

Von der Sehnsucht nach Familie und Freunden spricht Rudolf Nickol kaum. Briefe nach Hause habe er schreiben können und von dort auch Nachricht bekommen. Eine zarte Verliebtheit überdauerte die Jahre nicht: „Das Mädchen schrieb mir irgendwann, dass es geheiratet habe.“ Nickol winkt ab. So war das eben. Die echte Liebe kam später mit seiner Frau Monika. An sie erinnert ein Bild an der Wand im Gorbitzer ASB-Seniorenheim. Auch die Freiheit kam. Zwei Jahre nach Kriegsende wurde Rudolf Nickol entlassen. Wenn die Welt nun auch eine andere war, etwas blieb: Schreibstuben. Bis zu seiner Rente arbeitete Nickol in verschiedenen Werken und Kombinaten als Buchhalter. Und er reiste auch wieder – frei, friedlich und selbstbestimmt per Kreuzfahrtschiff über die Weltmeere.