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Geboren, als die Titanic sank

Mit fast 106 Jahren ist der wohl älteste Mensch im Landkreis gestorben: Herta Neumann aus Pirna.

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© Archivfoto: Norbert Millauer

Von Jörg Stock

Pirna. Sie freut sich auf den Sommer, auf den Garten, auf die Blumen, auf die Schmetterlinge und auf die weißen Wolken mit ihrem unerschöpflichen Formenspiel. Ein Sommer bleibt Herta Neumann noch, als sie im Januar 2017 davon spricht. Gerade ist sie 105 Jahre alt geworden und staunt selbst darüber, in aller Bescheidenheit, wie es ihre Art ist. „Ich muss warten, bis meine Lebensuhr abläuft“, sagt sie auf die Frage, wie lange sie noch da sein wird. Nun ist die Uhr stehengeblieben. Am 10. Januar, 17 Tage vor ihrem 106. Geburtstag, ist Herta Neumann aus Pirna, der vermutlich älteste Mensch des Landkreises, gestorben.

Was muss in Herta Neumanns Kopf vorgegangen sein, wenn sie ihren Enkeln dabei zuschaute, wie die mit ihren Handys um die Welt surften? Als Bäckerstochter Herta am 27. Januar 1912 geboren wurde, schickte man sich statt WhatsApp noch Telegramme oder wartete stundenlang auf ein Ferngespräch. Fotos knipsen im Akkord? Unmöglich. Kleinbildkameras waren unbekannt, ebenso wie Fernsehapparate, Haartrockner, Reißverschlüsse oder Verkehrsampeln. Das größte Wunder jener Tage hieß Titanic und stand kurz vor seiner fatalen Jungfernfahrt.

Ihr ganz persönliches Wunder erlebte die kleine Herta, als die erste elektrische Glühbirne in der elterlichen Wohnküche aufflammte. Schule und Handelsschule bestand das ehrgeizige Mädchen dank guter Auffassungsgabe mit Bravour und fand Anstellung im Kontor einer Pirnaer Eisenwarenhandlung. 1933 wurde sie Zeugin einer der ersten deutschen Bücherverbrennungen, als SA-Leute nur einige Schritte von ihrem Laden entfernt den Inhalt der sozialdemokratischen Volksbuchhandlung auf die Straße schmissen und anzündeten.

Im folgenden Krieg verlor Herta Neumann ihren Mann. Der Verlust ließ sie, wie sie es beschrieb, „zu Stein“ erstarren. Später heiratete sie erneut und zog drei Kinder groß. Sie wechselte ins Steuerfach und arbeitete in diesem Metier bis zur Rente und weit darüber hinaus. Noch Jahre nach der Pensionierung erledigte sie Steuersachen für lokale Handwerker und Gastronomen.

Ihren Lebensabend verbrachte Herta Neumann in Pirna-Copitz bei ihrer Stieftochter Bärbel Hartmann und deren Mann Dieter. Im Haus, gelegen in einer stillen Nebenstraße, bewohnte sie, bereits über hundert Jahre alt, noch immer eine eigene Wohnung im Obergeschoss und bewältige den Alltag zu guten Teilen selbst. Erst 2016, als sie nach einem Sturz aus dem Krankenhaus kam, zog sie bei Bärbel und Dieter ein. Die beiden pensionierten Lehrer sorgten von nun an rund um die Uhr für Herta. Zum täglichen Ritual der geistig und körperlich erstaunlich fitten Greisin gehörte das Studium der Sächsischen Zeitung, das sie mithilfe einer großen Lupe betrieb. Die Presseschau konnte vom Morgen bis zum Nachmittag dauern.

Belastet von eigenen Gesundheitsproblemen, mussten die Hartmanns im Oktober 2017 die Pflege aufgeben. Herta zog in die Seniorenresidenz nach Rathewalde, wo sie sich offenbar gut einlebte, an Beschäftigungen teilnahm und Weihnachten in der Kirche mitsang. Am 9. Januar ging es ihr plötzlich schlecht. Man brachte sie in die Klinik. Anderntags, beim letzten Besuch, fehlte ihr sichtlich die Kraft zum Weiterleben. So müde sei sie gewesen, berichtet Dieter Hartmann. Dann sei sie friedlich eingeschlafen, so, wie sie es sich gewünscht habe. Die letzte Ruhe findet Herta Neumann auf dem Pirnaer Friedhof bei ihrem vor über 30 Jahren verstorbenen Mann.