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Gastbeitrag: Zweites Leben

Verfall und Resignation prägten Görlitz in den 1980er Jahren. Doch einige Menschen stellten sich dem entgegen und retteten wertvolle Häuser.

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© Helmut Vogt

Von Thomas Backhaus

Görlitz. Es wird still. Die Frage trifft ins Mark. Die Männer der morgendlichen Einsatzbesprechung schauen gebannt auf ihren Chef. Eberhardt Wünsche hält einen Moment inne, bevor er auf die Frage seines Zimmerermeisters antwortet. Hartmut Scholze aus Königshain, sonst geschäftig mit seinem Moped zwischen den Baustellen in der Görlitzer Altstadt unterwegs, hat die Frage gestellt, die hier alle bewegt: „Ist die Altstadt noch zu retten? Eberhardt, wir sanieren, retten ein Altstadthaus. Aber wir müssen zusehen, wie links und rechts Häuser verfallen, sich niemand darum kümmert. Was soll bloß aus Görlitz werden?“ „Ich weiß es auch nicht“, antwortet Wünsche ehrlich.

Die sogenannte Neidecke musste nach dem Einsturz der Dachgeschossdecke 1982 notgesichert werden.
Die sogenannte Neidecke musste nach dem Einsturz der Dachgeschossdecke 1982 notgesichert werden. © Helmut Vogt
Die Sanierung wurde 1997 fertiggestellt. Die Neißstraße 7 war da ein Vierfamilienhaus mit Töpferei im Erd- und ersten Obergeschoss.
Die Sanierung wurde 1997 fertiggestellt. Die Neißstraße 7 war da ein Vierfamilienhaus mit Töpferei im Erd- und ersten Obergeschoss. © Roland Münch

Der Leiter der Baufirma Hochbausanierung, der im vergangenen Herbst starb, überlegt kurz. „Aber, wir werden alles tun, was wir mit unserem Baubetrieb tun können. Jedes Haus, was wir sanieren, ist gerettet, ist dem Verfall entrissen.“

Warmes Wasser gegen Parkett

Anfang der Achtziger Jahre zeigt sich die Lage in Görlitz alles andere als rosig. Ist die Situation in der DDR schon schwierig, trifft es die Stadt Görlitz mit ihrer Randlage zu Polen, dem großen Häuserbestand in den Gründerzeitvierteln und der historischen Altstadt besonders hart. Viele Görlitzer gingen nach dem 17. Juni 1953 bis zum Mauerbau und darüber hinaus in den Westen. Die geteilte Stadt an die Neiße, die vom Krieg weitestgehend verschont blieb, verlor einen großen Teil ihrer Einwohner. Das Ausbluten der einst prosperierenden Stadt hatte Narben hinterlassen. Leer gezogene Wohnungen und verlassene Häuser waren die Folge.

Die neue Plattenbausiedlung am Rande der Stadt mit mehreren Tausend gut geschnittenen Wohnungen zog zudem viele Innenstadt-Bewohner wie ein Magnet nach Görlitz-Nord. Warmes Wasser aus der Wand, Spannteppich und ungezählte Wärme per Einrohrheizung wurden gegen Stuck, Parkett und Ofenheizung gern eingetauscht. Zu groß war die Hoffnungslosigkeit, dass das Dach endlich repariert, der marode Schornsteinkopf neu aufgemauert oder gar Fliesen für ein Bad besorgt werden konnten. Politisch waren die „alten Städte“ längst aufgegeben. Ein Großteil des Wohnungsbaukombinates arbeitete zudem in Berlin, schuf dort eine schönere Welt für die Hauptstadt auf Kosten der Provinz.

Doch zurück zur Einsatzbesprechung der Bauleute: Eberhardt Wünsche, der einer Baumeisterfamilie entstammte, führte wie so oft notwendige Betteltelefonate, um den Laden am Laufen zu halten. Ein neuer Bezugsschein für feinen Putzsand musste organisiert, ein Silo Zement für Betonarbeiten geordert, Kohle zur Beheizung der Winterbaustellen vom Görlitzer Flugplatz abgerungen werden.

Spätabends war ein Eisenbahn-Waggon mit Beeskower Spanplatten am Weinhübeler Bahnhof zu entladen. Diese täglichen Mosaiksteine waren notwendig, um eingestürzte Holzbalkendecken zu ersetzen, Gewölbe zu sichern, Dachstühle zu sanieren. Dabei wurden Dachziegel, Granitplatten, Portalteile und Holzbalken geborgen, um sie vor Ort wieder denkmalgerecht einzubauen, historische Substanz zu erhalten.

Fast abrissreife Häuser

Mit fast 50 Bauleuten, zwei Zimmerer- und vier Maurerbrigaden sowie einer Steinmetztruppe wurden Jahr für Jahr vor allem Häuser in der historischen Altstadt vor dem Verfall gerettet. Wertvolle Barock- und Renaissance-Häuser, die in den Augen vieler Görlitzer fast abrissreif waren, bekamen so ein zweites Leben geschenkt. Besonders gefährdete Eckhäuser wie die Nikolaistraße 6 mit der Gaststätte Destille, die Peterstraße 7 und Neißstraße 7 – die sogenannte Neidecke – wurden unter schwierigsten Bedingungen statisch gesichert, saniert und damit die angrenzenden Straßenzüge baulich geschützt.

Es ist gut, dass es Menschen wie Eberhardt Wünsche und Bauhandwerker gab, die der Resignation in schwieriger Zeit widerstanden. Es ist gut, dass es Bauleute gab, die mit baumeisterlichem Sachverstand und handwerklichem Können mit jedem geretteten Haus ein Stück Hoffnung der Stadt Görlitz gaben. Wenn heute stolz Besucher und Touristen durch die historische Altstadt geführt werden, sollte man dies nicht vergessen.