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Fußgänger mit eingebautem Radar

Die Wege in Madrid sind eng. Wer sich zu Fuß in der Stadt bewegt, tut das lieber im Pulk. Einzelgänger haben es schwer.

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© Reuters

Von Martin Dahms

Steht das Wort trampen eigentlich noch im Duden? – Ja. Ich habe aber schon lange keine Tramper mehr am Straßenrand gesehen. Wobei ich aus eigener Erfahrung weiß, dass trampen lehrreich ist. Man lernt Leute kennen, die man sonst wahrscheinlich nicht kennenlernen würde.

Ich erinnere mich an einen Familienvater, der mich vor vielen Jahren irgendwo an einer deutschen Autobahnraststätte aufgabelte und mir dann unterwegs seine Lebensphilosophie erklärte. Er habe zwei Söhne, denen er Selbstbewusstsein beibringen wolle. „Schaut euch in der Fußgängerzone um“, sagte er mir, was er seinen Söhnen sagte. „Da gibt es die, die unbekümmert ihren Weg gehen, und die, die den anderen ausweichen. Ihr sollt auf keinen Fall zu denen gehören, die ausweichen.“ Was für ein dummes Zeug, dachte ich und hielt den Mund.

Später zog ich nach Madrid. Und stellte fest, dass ich zu den Menschen gehöre, die ausweichen. Man sieht mir schon von ferne an, dass ich kein gebürtiger Madrider bin. Aber falls man es mir nicht ansehen würde, müsste man nur beobachten, wie ich mich über Bürgersteige und durch Fußgängerzonen bewege. Ich weiche aus. Ein Madrider weicht nicht aus. Niemals.

Madrid ist ungefähr so groß wie Berlin. Genauer gesagt in beiden Städten leben ungefähr gleich viele Menschen. Madrid nimmt aber sehr viel weniger Platz ein als Berlin. Hier ist alles enger, die Straßen, die Höfe und vor allem die Bürgersteige. Auf einem gewöhnlichen Madrider Altstadtbürgersteig können gerade einmal zwei Menschen aneinander vorbeilaufen, jeder in seiner Richtung.

Die Spanier sind aber noch weniger gern allein als alle anderen Menschen auf der Welt. Außer morgens auf dem Weg zur Arbeit sind sie in Gruppen unterwegs. Mindestens zu zweit, aber lieber zu fünft. Dafür sind die Madrider Bürgersteige nicht gemacht. Man müsste im Gänsemarsch vor- und hintereinander herlaufen, was kein Madrider tut. Der bewegt sich lieber im Pulk.

Wer einem solchen Pulk begegnet, ist verloren. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als stehenzubleiben, sich an die Wand zu drücken und darauf zu warten, dass der Schwarm vorüberzieht. Neulich habe ich ein Experiment gewagt. Ich habe mich benommen, wie es der deutsche Familienvater seinen Söhnen empfahl: Ich ging unbekümmert meinen Weg. Brav auf der Hälfte des Bürgersteiges, von der ich meinte, dass sie mir zustand.

Ich hatte mehr Körperkontakt, als ich mir wünschte. Irgendwas mache ich falsch. Wenn es allen Madridern so ginge wie mir, gäbe es da ein ständiges Geremple und Geschubse. Ist aber nicht so. Die Menschen tragen offensichtlich einen Radar mit sich herum, der sie fehlerfrei erkennen lässt, wo noch ein Zentimeter Platz für sie ist und wo nicht mehr. Falls nötig, gehen sie im wirklich allerletzten Moment beiseite. Und keiner stört sich am anderen.

Mit diesem angeborenen oder anerzogenen Radar erkennen sie übrigens auch gleich, wenn ihnen in mir ein „grundsätzlicher Ausweicher“ begegnet. Der wird schon stehenbleiben und sich an die Wand drücken, sagt ihnen der Radar. Manchmal irrt er sich.