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Freund und Feind an der Grenze

Eigentlich verstehen sich die Großschönauer gut mit ihren tschechischen Nachbarn. Wenn da nicht Kriminalität und Prostitution wären.

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© Christian Gehrke

Von Christian Gehrke

Für 20 Euro bietet Monika sich ihren Freiern an: Geschlechtsverkehr und Massage. Die Frau mit dem kurzen Rock, den Flipflops und den langen braunen Haaren steht an der Grenze zwischen Deutschland und Tschechien. Rechts liegt Großschönau, links Varnsdorf. Die Regentropfen laufen über Monikas Brille, sie klappert mit den Zähnen, reibt sich die Oberarme. Es ist kalt. Ab und zu stoppt ein Auto, oft mit deutschem Kennzeichen. Sie flitzt dann auf die Straße, die Scheibe geht runter, ein kurzes Gespräch. Die Räder rollen weiter durch den Regen. „Bei dem Wetter läuft es nicht so“, sagt sie. Monika ist 28 und sagt: „Ich muss das machen, meine Kinder wollen essen.“ Die Haare werden vom Regen nass. Weiter warten, heißt es.

Frank S. aus Großschönau beobachtet den Straßenstrich an der Grenze. Er schießt Fotos mit dem Handy. „Da steht sie wieder, die Fleißige.“ So nennt er Monika, weil er sie häufig sieht. Seitdem die tschechische Polizei stärker kontrolliert, stehen die Frauen auch auf der deutschen Seite. Das gefällt Frank S. nicht, allein schon wegen der Kinder in seiner Nachbarschaft. Er wohnt im letzten Haus vor der Grenze, einer früheren Zollstation.

Er ist in dem Haus geboren und aufgewachsen. Er kennt die Grenze noch als Kind. Ein Schlagbaum, Ruhe. Jetzt, da die Grenze offen und frei passierbar ist, fahren sogar Lastwagen hin und her. Touristen dürfen nach Tschechien, so oft sie wollen. Frank S. hat Urlaub, der Sohn verbringt die Ferien bei ihm im Garten. Der Rasen neben der überdachten Terrasse mit Stühlen ist kurz gemäht. Wenn der Großschönauer erzählt, ist der angestaute Frust zu spüren. Einbrüche, Diebstähle. „Jeden Tag ist hier etwas los“, sagt er mit fester Stimme. Kürzlich habe er eine Gartenparty mit Freunden gefeiert. „Die sind einfach über den Zaun geklettert und haben ein Fahrrad mitgenommen“, sagt er.

Frank S. hat jetzt vorgesorgt. Sein Haus samt gemähtem Rasen wird videoüberwacht. Die Hecke hat er mit Stacheldraht gespickt. Am Gartenzaun hängt ein Schild: Dieses Objekt ist alarmgesichert, videoüberwacht und durch Elektrozäune gesichert. Auch auf Tschechisch, damit es jeder versteht. Schon Dutzende Male seien er und seine Eltern bei der Polizei gewesen. Genutzt hat es nichts. Deshalb fordert er härtere Strafen: „Unsere Justiz ist viel zu weich. Derjenige, der ein Fahrrad stielt, sollte den Wert abarbeiten. Die Polizei muss stärker kontrollieren.“ Die Anzeigen seien zwecklos: Meist werden die Täter nicht geschnappt. Und bei ihnen ist ja auch nichts zu holen, weil sie arm sind. Und das Gespräch suchen, auf das Problem aufmerksam machen, die Prostituierten bitten, woanders zu stehen? „Das ist nicht meine Aufgabe als Bürger“, erklärt Frank S.

„Ohne die Kriminalität ist die Nachbarschaft schön“

Das helle T-Shirt und die hellen kurzen Hosen kontrastieren mit seinen schwarzen Haaren. Er hatte schon einige Jobs, war auch Privatdetektiv. Zurzeit arbeitet Frank S. als Computerfachmann und betreibt ein Reisebüro. Seine Kunden sind Tschechen. „Ohne die Kriminalität ist die Nachbarschaft schön“, sagt Frank S. Die Hauskatze Mietzi läuft vor dem Reisebüro auf und ab. Ob er hier wegziehen wolle? Dafür hat Frank S. zu viel in das Haus gesteckt.

Das Rathaus der Gemeinde Großschönau leuchtet in der Sonne. Der Bürgermeister ist im Urlaub. Sein Stellvertreter hat die Anweisung, nichts zum Straßenstrich zu sagen. Und er hält sich daran. Nur so viel: „Wir kümmern uns. Wir sind in Kontakt mit den Varnsdorfern.“ Ordnungsamtsleiter Rainer Milde ist zu einem Gespräch bereit. Milde will eigentlich zur Mittagspause, doch er erklärt ausführlich. Er kennt das deutsche Recht: In Sachsen dürfe es Straßenstrich und Bordelle erst ab 50.000 Einwohnern geben, wenn der Stadtrat es duldet. Ansonsten bleibe Prostitution in Sachsen verboten.

Der Zoll ist über die Situation an der Grenze informiert, das Ordnungsamt kontrolliert und die Polizei sowieso. „Die können dann nur Platzverweise aussprechen und die halten 24 Stunden, mehr nicht“, sagt er. Wenn die Polizei die Frauen anspricht, sagen sie, dass sie spazieren gehen oder der Freier ihr Freund ist. Die Bereitschaftspolizei fahre regelmäßig vorbei. Und eigentlich sei die Landespolizei zuständig. In Großschönau gibt es zudem die Sächsische Sicherheitswacht, Angestellte der Gemeinde, die zu Fuß unterwegs ist.

Auf der tschechischen Seite hat das deutsche Gesetz keine Folgen. Monika steht immer noch im Regen. Fährt man an ihr vorbei, gelangt man zu den ersten Wohnblocks von Varnsdorf. Wäsche hängt auf den Balkons. Mütter schieben ihre Kinderwagen. Mädchen und Jungen spielen auf der Straße, es sind viele. Auf der rechten Seite findet sich ein Haus, von dem der rote Putz abbröckelt. Die Gardinen sind zerrissen. Von den 16.000 Einwohnern in Varnsdorf sind 500 Sinti und Roma. Die Mietwohnungen sind billig. Deswegen bringt der Staat die Sinti und Roma hier unter.

„Bitte eine Euro, Kronen, Kronen, Kronen, bitte eine Euro“, betteln die Kinder andauernd. Es ist ein Klagelied, das man so schnell nicht vergisst. Kinderaugen, gleich fünf Paare. Miko steht vor dem roten Haus. Er ist etwa 40 Jahre alt und trägt ein Trikot vom FC Barcelona. Ronaldinho steht auf seinem Rücken. Miko hat acht Kinder. Ein Foto? Ja, aber nur für zehn Euro.

Im Zentrum von Varnsdorf haben die Geschäfte geöffnet. Die Sonne scheint auf eine Stadt in der Mitte Europas. Barbora Gerhartova steht im Eiscafé. Wie einige Deutsche studiert sie im 50 Kilometer entfernten Liberec. Sie ist 20 Jahre alt und hat die blonden Haare zu einem Zopf gebunden. Studieren und zusammenleben mit Deutschen? „Das ist kein Problem und ganz normal“, sagt sie in Englisch. Es gebe viele Deutsche in Liberec. Dann bringt sie zwei Mädchen ein Eis, die so aussehen, als würden sie von der Schule kommen. Am Straßenrand sitzt Jiri Sucharda auf seinem Motorrad, der Chef der Feuerwehr in Varnsdorf, ein Mann mit breiten Schultern. Sucharda kennen sie hier alle. Er war schon Polizeichef und Stellvertretender Bürgermeister von Varnsdorf. Selbst die Deutschen kennen ihn und sie mögen ihn, auch die, die die Tschechen nicht so mögen.

Frauen werden beliebig nach Sex-Diensten gefragt

„Ach Sucharda, der ist ein Guter“, meint selbst Frank S. Das hat einen Grund: Sucharda hat auf der deutschen Seite in Großschönau Feuer gelöscht. Mit Varnsdorf haben sie einen Löschhilfevertrag. Im Rathaus von Großschönau erinnern sie sich noch gut an den Sommer vor einem Jahr. Damals waren tschechische Feuerwehrleute mit dem Fahrrad unterwegs. Als in Hainewalde, gleich neben Großschönau, ein Haus brannte, hielten sie an und löschten das Feuer ganz selbstverständlich.

Im Varnsdorfer Rathaus angekommen, öffnet Sucharda sein Büro und setzt sich. Ja, das Problem der Prostitution kenne er gut. Er und seine Kollegen beobachten das regelmäßig: Ältere deutsche Männer fahren erst die eigene Frau zum Friseur. Danach steigt eine Roma-Frau für 20 Euro in ihr Auto. Auch andere Frauen werden in Varnsdorf nach Sex-Diensten gefragt. Das sei lästig. Sucharda will schon das Fragen strafbar machen. Die Kontrollen verschärfen. Doch der Feuerwehrmann kennt auch die guten Seiten der Nachbarschaft.

Der Kindergarten arbeitet mit dem in Großschönau zusammen. Die Mädchen und Jungen lernen beide Sprachen. Für den Radweg von Großschönau nach Varnsdorf wurden EU-Fördermittel beantragt. Beide Städte engagieren sich im Projekt Saubere Neiße. Bei Festen in Varnsdorf und Großschönau hört man zwei Sprachen. Beide Seiten profitieren: Deutsche lieben tschechisches Essen, Tschechen den Trixi-Park. „Wenn man Varnsdorf und Großschönau aus der Luft betrachtet, sehen sie aus wie eine Stadt“, meint Sucharda.

Der Artikel entstand im Rahmen des Abschlussprojekts „Grenzgänger“ der Volontäre der Thüringer Allgemeinen, wofür sie eine Woche im Dreiländereck recherchierten.