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Freiwillig im Stasi-Knast

Ein Verein kämpft seit 20 Jahren gegen das Vergessen. In der Gedenkstätte erleben Besucher, was Inhaftierte erlitten.

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© René Meinig

Von Lars Kühl

Die Stimmung ist aufgeheizt. An die 5 000 Menschen stehen vor der Mauer, die den für sie so verhassten Ort abschottet. Stürmen und Selbstjustiz üben oder besonnen und gewaltfrei agieren? Die Vernunft siegte am späten Abend dieses 5. Dezembers 1989. Auch weil Stasi-Mitarbeiter die Tore zur Bezirksverwaltung an der Bautzner Straße selbst öffneten.

In diesem Barkas wurden die Gefangenen in die Stasi-Zentrale transportiert. Weil die Garage eine Schleuse ist, wussten die Inhaftierten oft nicht, wo sie sind.
In diesem Barkas wurden die Gefangenen in die Stasi-Zentrale transportiert. Weil die Garage eine Schleuse ist, wussten die Inhaftierten oft nicht, wo sie sind. © René Meinig
© René Meinig

Als ein kleiner Trupp die politischen Gefangenen befreien will, finden sie nur ein Häuflein im Keller. Die Inhaftierten stecken in Trainingsanzügen und wirken seltsam entspannt. Einer hat die Beine übereinander geschlagen. In die „Freiheit“ will niemand von ihnen. Sie fragen lediglich nach Zigaretten. Katrin Thiel schildert diese Szenen, so sei es auf einem Video von der Besetzung des Gebäudes zu sehen, das offensichtlich getürkt ist.

Die Frau erklärt einer Gruppe ausländischer Sprachschüler, wie die politische Wende vor gut 27 Jahren auch den Hochsicherheitstrakt rund um den alten „Heidehof“ erreichte, ein ehemaliges Mietshaus, das vorher die Papier- und Kartonagenfabrik beherbergte. Katrin Thiel arbeitet für die heutige Gedenkstätte und gibt ihr Wissen auf Führungen weiter. In einer Zeit, da die Weltordnung von Krisen zerrissen ist und Konflikte offen ausgetragen werden, geraten die Machenschaften der Staatsüberwachung in Vergessenheit.

Verfolgt werden können sie nicht, denn die Stasi-Mitarbeiter handelten nach DDR-Recht gesetzeskonform. Kaum einer steht zu seinen Taten, sich selbst schuldigt keiner an. Den Alltag in dem berüchtigten Untersuchungsgefängnis können nur Zeitzeugen schildern. Davon leben immer weniger, und ihre Erinnerung wird immer lückenhafter. Auch standen die Menschen während ihrer Haft so unter psychischem Druck und Stress, dass sie vieles verdrängt haben. Der Verein „Erkenntnis durch Erinnerung“ hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, gegen das Vergessen anzugehen. Vor 20 Jahren wurde er gegründet. Er sicherte das Haftgebäude als Denkmal und gestaltete es sukzessive zur Gedenk-, Begegnungs- und Bildungsstätte um. Auf Führungen reisen die Besucher in den tiefsten Sozialismus zurück.

Alles beginnt im Keller, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als die sowjetischen Besatzer Nazi-Verbrecher – echte, von denen man es dachte und denunzierte – in kalte Zellen steckte. Zu fünft bis zu siebt schliefen die Inhaftierten gemeinsam auf Strohsäcken, die auf einer Holzpritsche lagen. Als Toilette gab es nur einen Eimer. Die Kleidung durfte nicht gewechselt werden. Schmutz und Läuse nisteten sich dauerhaft ein. Wenn eine russische Ärztin fragte, ob jemand krank sei, antworteten die Gefangenen mit „nein“, damit kein Gas in die Zellen gesprüht wird, das sowieso nicht half. So erzählen es Thiel und ihre Kollegen auf den Führungen und berufen sich auf Zeitzeugenberichte. Drei Monate dauerte in der Regel die Tortur. Am Ende mussten die Häftlinge Protokolle unterschreiben, die sie nicht lesen konnten. Alles war auf Kyrillisch wiedergegeben. Wer sich weigerte, wurde zurück in die Zellen geschickt.

Wer unterzeichnete, wurde erst nach Bautzen und dann nach Moskau transportiert. Wem in der sowjetischen Hauptstadt nicht die Todesstrafe drohte, der wurde ins Arbeitslager geschickt, wo unmenschliche Bedingungen in der arktischen Kälte des Urals vorherrschten. Überlebende haben davon erzählt. „Das sind Geschichten, die gibt es nicht im Internet“, sagt Thiel.

Nach dem Tod von Diktator Stalin übergaben die Sowjets im Herbst 1953 das Gelände an der Bautzner Straße an das Ministerium für Staatssicherheit. Die Stasi baute eine neue Untersuchungshaftanstalt mit ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen und perfiden Methoden.

Im Keller hausten fortan 20 bis 25 Dauergefangene – nur Männer –, die als Gärtner, Maler oder Köche auf dem Gelände arbeiteten. Das eigentliche Vorgehen der Stasi spielte sich darüber ab. Die politischen Delinquenten wurden zunächst mit einem Barkas in eine Schleuse gebracht. Deren Motive konnten ganz unterschiedlich sein – von Systemkritik über mehrfach den Ausreiseantrag gestellt, die Flucht versucht bis hin zu Umweltaktivitäten, zu viel Religiosität und sogar in einigen Fällen einfach nur einen falschen Witz erzählt. Auch, wer von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) angeschwärzt wurde, war dabei. In einer Steh-, nicht größer als eine Telefonzelle, folgte das erste Verhör samt Einschüchterung. Immer im Hinterkopf, dass man nicht wusste, was mit den Angehörigen und Kindern geschah. Nackt musste man die Erstuntersuchung über sich ergehen lassen. Das Geschlecht spielte keine Rolle. Dann gab es Einheitskleidung, eine Schüssel und Seife sowie Plastebesteck.

In den engen Zweierzellen mussten die Gefangenen tagelang auf ihr Verhör warten. Die Insassen wurden mit Versprechungen gegeneinander ausgespielt. Eine Verständigung mit dem Zellennachbarn war verboten, genau wie singen. Durch eine Klappe gab es das Essen. Nachts musste eine bestimmte Liegeposition auf dem Rücken mit den Händen neben dem Körper eingehalten werden. Wer nicht gehorchte, wurde in eine Isolationszelle gesperrt.

Bei der Befragung im Vernehmungszimmer waren die „Beweise“ schon aufbereitet. Viele Insassen waren nach den Tagen in der Untersuchungshaft bereits so gebrochen, dass sie vieles zugaben, auch wenn die Wahrheit eine andere war.

Den düsteren Alltag in der Untersuchungshaft, wie sich die Gefangenen über die Klos trotz Verbot verständigten und wie pompös die Stasi-Oberen selbst residierten, zeigt die Führung durch die Gedenkstätte (Bautzner Straße 112a) an diesem Freitag von 16 bis 17.30 Uhr.