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Freispruch im dritten Anlauf

Auch sechs Jahre nach den bislang schwersten Krawallen gibt es noch Verfahren.

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© René Meinig

Von Alexander Schneider

Dresden. Tim H. kann wie nur wenige andere von sich behaupten, dass er die Dresdner Strafjustiz von fast allen Seiten kennengelernt hat. Haftstrafe, Geldstrafe, Freispruch – und alles für dieselben Vorwürfe. Seit 2013 geht das schon so. Drei Prozesse, drei Urteile – und alle anders. Am Freitag kam der Freispruch. Diese unterschiedlichen Entscheidungen „würden mein Vertrauen in den Rechtsstaat nicht unbedingt festigen“, sagte der Vorsitzende Richter Martin Schultze-Griebler, der gegenüber Tim H. aus die lange Verfahrensdauer bedauerte.

Der 40 Jahre alte Hüne aus Berlin stand jahrelang im Verdacht, einer der Drahtzieher der Krawalle vom 19. Februar 2011 gewesen zu sein. Es waren die bis dahin schwersten Ausschreitungen am Rande von Demonstrationen rund um das jährliche Gedenken an die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Für die rechtsextreme Szene hatte sich der 13. Februar zum europaweit größten Treff entwickelt – von Jahr zu Jahr war daher auch der Protest gegen diese Demonstrationen größer.

Mehr als 12 000 Menschen hatten am 19.Februar 2011 gegen den Nazi-Aufmarsch protestiert, darunter – laut Polizei – 3 500 gewaltbereite Teilnehmer der links-autonomen Szene. Schon vormittags waren die Wasserwerfer in Betrieb, weil Polizeisperren durchbrochen wurden. Die Beamten wurden mit Steinen, Flaschen, Böllern angegriffen, Autos und Hausfassaden brannten – es herrschte einen ganzen Tag Chaos in der Südvorstadt.

Auch in der Bamberger Straße haben Autonome eine Sperre durchbrochen. In mehreren Angriffswellen haben sie 14 Uniformierte aus Düsseldorf angegriffen, mit Flaschen, Latten und Feuerwerkskörpern. Die Angreifer waren zum Teil vermummt, trugen Schutzausrüstung wie Polster und Visiere. Als das Pfefferspray der Beamten alle war, konnten sie die Angreifer nicht mehr auf Abstand halten und wurden überrannt. Vier Männer wurden verletzt.

Zu viele Megafone

Tim H. wurde noch im Herbst 2011 wegen schweren Landfriedensbruchs und Beleidigung angeklagt. Er habe mit seinem Megafon die Angriffe mit koordiniert. 2013 wurde H. am Amtsgericht Dresden als Aufwiegler zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten verurteilt – ohne Bewährung. Im Berufungsprozess erhielt er „nur noch“ eine Geldstrafe von 4 050 Euro. H.s Verteidiger Ulrich von Klinggräff und Sven Richwin hatten nachgewiesen, dass neben Tim H. mindestens vier weitere Demonstranten Megafone am Tatort nutzten. Es war eine peinliche Schlappe für die ermittelnden Beamten, denen das entgangen war. H.s Verteidiger warfen auch deswegen der Polizei „Manipulation“ vor, sie habe eine „Fälscherwerkstatt“ betrieben.

Der dritte Anlauf war nun nötig, weil das Oberlandesgericht das Berufungsurteil kassiert hatte. Das Gericht habe nicht geprüft, ob H. sich nicht doch an einem Landfriedensbruch beteiligt hat, wenn schon nicht als Aufwiegler. Schultze-Grieblers Berufungskammer urteilte nun: Nein, Tim H. ist nicht nachzuweisen, dass die Megafon-Stimme ihm zuzuordnen ist. Außerdem sei die Menge von etwa 500 Leuten am Tatort nicht homogen. Vorne der schwarze Block, der mit Gewalt die Sperre durchbricht, hinten „normale Bürger“. Dort habe auch H. gestanden, laut Schultze-Griebler einige Reihen hinter dem gewalttätigen „schwarzen Block“. Er habe sich daher auch nicht am Landfriedensbruch beteiligt. Denn von der laut Gericht „friedlichen“ Menge – auf dem Video kam sie geschlossen in die Straße marschiert – sei nicht ansatzweise Gewalt ausgeübt worden. Für die Beleidigung – H. sagte „Hau‘ ab, du Nazisau!“ zu einem Polizisten – wäre er verurteilt worden, sagte der Richter – wenn es den dazu notwendigen Strafantrag nur gäbe. Der fehlt jedoch. Das ist seltsamerweise in all den Jahren niemandem aufgefallen. Rechtskräftig ist auch dieses Urteil nicht. Die Staatsanwaltschaft prüft eine Revision.

Tim H. sagte, er hoffe, die Staatsanwaltschaft akzeptiert den Freispruch. Er hatte schon zum Prozessauftakt von den Belastungen gesprochen, privat, finanziell, beruflich. Der 40-Jährige ist seit März 2011 in der Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei angestellt. Am Freitag vor Weihnachten, zwei Tage nach dem Prozessbeginn, haben Unbekannte vier Fensterscheiben seiner Wohnung eingeworfen, wo er mit Frau und zwei Kindern lebt. H. kann sich das nur im Zusammenhang mit diesem Prozess erklären. Er und seine Verteidiger gehen von einem rechtsradikalen Anschlag aus.

Tim H.s Fall ist nicht das letzte offene Verfahren zum 19. Februar 2011. Derzeit streitet die Staatsanwaltschaft mit dem Amtsgericht über die Eröffnung eines Verfahrens gegen einen weiteren Mann aus Berlin, der vom „Haus der Begegnung“ aus, der Zentrale der Linkspartei, Angriffe auf Rechtsextreme koordiniert haben soll.