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Frau Doktor hört auf

Am 26. Januar schließt die Kinderärztin Rosemarie Kandzia nach 23 Jahren ihre Praxis. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht.

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© Klaus-Dieter Brühl

Von Catharina Karlshaus

Großenhain. Noch neun Tage. Neun Tage, in denen im Haus auf der Großenhainer Carl-Maria-von-Weber-Allee noch immer kleine Patienten betreut werden. Neun Tage, in denen sie freundlich von Evelyn Preuß in Empfang genommen und liebevoll von Dr. Rosemarie Kandzia betreut werden. Nicht mehr als eine Woche, in der die 66-jährige Kinderärztin genau das tut, was sie fast ihr ganzes Leben getan hat: Kranke Mädchen und Jungen fachkundig behandeln und das mit ganzem Herzen.

Dass Rosemarie Kandzia am 26. Januar ihre Praxis für immer schließen wird, hat sich in der Röderstadt längst herumgesprochen. Ungläubig fragen seit Monaten ihre langjährigen Patienten nach. Wollen ganze Generationen von Großenhainern nicht glauben, was tatsächlich feststeht. „Es ist mir wirklich nicht gelungen, einen Nachfolger für meine Praxis zu finden“, bestätigt Rosemarie Kandzia und blickt traurig aus dem Fenster. Deutschlandweit habe sie in den vergangenen anderthalb Jahren nach einer oder einem Facharzt für Kinderheilkunde gesucht. Doch Fehlanzeige. Nicht ein einziger habe sich bei ihr gemeldet, erkundigt oder nachgefragt.

Unbegreiflich für die engagierte Medizinerin und bitter in diesen Stunden. Die in Wildenhain geborene und seit 1970 in Großenhain lebende Ärztin hätte gern einen Nachfolger eingearbeitet. Die durchaus moderne Praxiseinrichtung nach eigenem Bekunden für einen geringen Obolus verkauft. Und stattdessen die beruhigende Gewissheit gehabt, dass ihre Patienten am bisherigen Standort gut betreut werden.

Selbstständigkeit hat Vorzüge

Aber nein. Es sollte anders kommen. Monat um Monat ist verstrichen und kein interessierter Kinderarzt hat sich bei Rosemarie Kandzia gemeldet. Niemand, der wie sie damals am 1. Oktober 1993 den Entschluss gefasst hat, sich niederzulassen. Im Bewusstsein, dass an ihrem Arbeitsplatz, dem Großenhainer Krankenhaus ohnehin bald Stellen abgebaut werden. Als zweifache Mutter die Chance ergreifend, zu mehr Selbstständigkeit und Entscheidungsspielraum. „Es ist ein wunderbarer Beruf, und ich habe es trotz manch bürokratischer Hürde im scheint’s immer komplizierter werdenden Abrechnungssystem nie bereut, mich niedergelassen zu haben. Man kann sich die Arbeitszeit einteilen, die Kinder aufwachsen sehen und freut sich irgendwann, wenn diese als Erwachsene mit ihrem Nachwuchs in die Praxis kommen“, bekennt Rosemarie Kandzia.

Viele praktische und emotionale Vorzüge, die doch eigentlich auch einem jüngeren Mediziner bewusst sein sollten. Nicht zu vergessen ein stabiler und weiter anwachsender Patientenstamm, der in Spitzenzeiten einhundert schnupfende oder fiebernde Kinder täglich im Wartezimmer zum Sitzen kommen lässt. Ein Pensum, welches Rosemarie Kandzia nie geschreckt hat. Gemeinsam mit ihren zwei Helferinnen, Evelyn und Elli, habe sie in den vergangenen 23 Jahren immer gern getan, was ihr künftig erst einmal fehlen wird.

Von Anfang an ihrer Seite: Evelyn Preuß. Wer in das überaus gütig lächelnde Gesicht der gelernten Krippenerzieherin blickt, vergisst sicherlich auch als Vierjähriger, vor Stethoskop und In-den-Hals-Schau-Stäbchen Angst zu haben. Die 59 Jahre alte Großenhainerin bezeichnet die Arbeit in der Kandzia´schen Praxis wehmütig als „reines Glück“. Eines, was nun leider zu Ende ginge. Ein Ende mit Ankündigung, aber dennoch seien sie und ihre Kollegin – mittlerweile schon wieder in anderen Praxen untergekommen – traurig. Im Februar räume man noch gemeinsam aus und kopiere Patientenakten, die dann unter anderem an die zwei verbliebenen Kinderärztinnen Dr. Christine Spargen und Dr. Vera Illig weitergeben würden.

Bereitschaftsdienst mit Riesa

Dass sie nicht alle ihre Patienten übernehmen können, sei ihr natürlich klar, so Rosemarie Kandzia. Die Größeren unter ihnen müssten dann eben, so wie in Westdeutschland bereits üblich, von Allgemeinmedizinern betreut werden. Unterkommen wird jeder, daran hat Rosemarie Kandzia keinen Zweifel. Aber der Idealfall sei das aus ihrer Sicht nicht. Der Arbeitsaufwand für ihre Großenhainer Kolleginnen werde ab Februar freilich mehr werden, und eine Einschränkung könne man nicht wegreden: Mit der Aufgabe ihrer Praxis falle die Bereitschaft an den Wochenenden in der bisherigen Form weg. „Dr. Spargen und Dr. Illig können das zu zweit verständlicherweise nicht mehr leisten. Aber die Bereitschaftsdienste von Riesa und Großenhain werden zusammengelegt, sodass die Patienten nach wie vor einen Anlauf haben.“

Für die passionierte Ärztin alles andere als ideale Bedingungen, ihren Kittel an den Nagel zu hängen. Dennoch muss sie es tun. In genau neun Tagen ist endgültig Schluss. Das wissen ihre Patienten, die Familie und nicht zuletzt die lange schon darauf wartenden fünf Enkelkinder. Neun Tage, in denen sich indes aber jemand melden kann. Immerhin gilt die Genehmigung für den Praxisbetrieb noch ein halbes Jahr. Auch Rosemarie Kandzia hatte sich seinerzeit schließlich im letzten Moment entschlossen und es nie bereut. Noch neun Tage für einen passionierten Kinderarzt, um die Chance zu ergreifen. So, wie es Rosemarie Kandzia damals auch getan hat.