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Forscher mit Fußball-Gen

Antonio Hurtado ist Prorektor der TU Dresden. Heute lenkt er die Uni mit – früher Union Berlin.

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© René Meinig

Von Jana Mundus

Zuhören. Immer gut zuhören. Der 13-jährige Antonio sitzt im Unterricht. Angestrengt folgt er den Worten des Lehrers. Der Junge gibt sich Mühe, aber er versteht nicht viel. Die Sprache, die um ihn herum alle sprechen, ist nicht seine: Deutsch. Bisher hatte er in Spanien gelebt, bei den Großeltern. Mutter und Vater waren als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen. Nun haben sie ihn zu sich geholt. Sie leben in einer Eisenbahnersiedlung bei Duisburg. Tiefster Ruhrpott ... 45 Jahre später – tiefstes Sachsen. Antonio Hurtado sitzt in seinem Büro der TU Dresden. Eigentlich hat er dort sogar zwei Büros. Seit 2009 ist er Direktor des Instituts für Energietechnik. Vor einem Jahr wurde er außerdem zum Prorektor für Universitätsentwicklung gewählt. „Der Weg hierhin war nicht der direkteste“, sagt er. Und setzt mit einem Lächeln hinzu: „Mal wieder.“

Antonio Hurtado und Union Berlin – eine gewachsene Liebe. Bis 2012 war er Aufsichtsratsvorsitzender bei dem Fußballverein.
Antonio Hurtado und Union Berlin – eine gewachsene Liebe. Bis 2012 war er Aufsichtsratsvorsitzender bei dem Fußballverein. © imago/Matthias Koch

Es ist keine dieser klassischen Wissenschaftskarrieren mit Abitur, Studium, Promotion, wissenschaftlicher Mitarbeiter bis hin zum Ergattern einer Professur. Hurtados Biografie nimmt Umwege, macht Ausflüge in andere Gebiete und kehrt wieder um. „Aber genau dadurch habe ich Erfahrungen sammeln können, die mir heute helfen“, erzählt er. Dass er in der Schule durch die Sprachprobleme genau hinhören, dass er sich mehr konzentrieren musste als andere, um den Abschluss zu schaffen, all das hätte ihn geprägt. „Ich habe gelernt, meinen Mitmenschen zuzuhören.“

Nach der Mittleren Reife bekommt er einen der begehrten Ausbildungsplätze als Technischer Zeichner bei Krupp. Doch er will mehr, er will studieren. Also macht er sein Fachabitur an der Abendschule und beginnt danach an der Mercator Universität Duisburg Maschinenbau zu studieren. Sein Fachgebiet bis heute: Energietechnik. Sein Schwerpunkt: Kernenergie. Er promoviert an der RWTH Aachen zu hypothetischen Störfällen in Hochtemperaturreaktoren. In Zeiten, in denen überall von grüner, von erneuerbarer Energie die Rede ist, vielleicht kein Fachgebiet, für das er von allen Seiten Beifall bekommt. Er muss zuhören – immer wieder auch Kritikern der Atomenergie. In solchen Situationen bleibt er ruhig. Erklärt, dass er nicht grundsätzlich gegen den Atomausstieg sei. Nur wäre es vorher eben günstiger, brauchbare Technologie-Alternativen zu haben. Die Versorgungssicherheit in Deutschland steht schließlich auf dem Spiel.

Antonio Hurtado ist gern Wissenschaftler. Doch gleich mehrfach macht er auch Abstecher in die Wirtschaft. Arbeitet unter anderem als Geschäftsführer bei den Berliner Stadtreinigungsbetrieben und für den niederländischen Energieversorger Nuon. Was bringen diese Abstecher dem Wissenschaftler Hurtado? „Ein besseres Gefühl fürs Management und für Zahlen“, sagt er. Wenn bestimmte Kennzahlen im Unternehmen erreicht werden müssen, schafft das Verbindlichkeiten, man hat Verantwortung. „Auch als Wissenschaftler war es gut, so etwas zu lernen.“ Es bringt einen weiter.

Eine Episode in seinem Leben hatte er aber garantiert nicht geplant. Schon immer liebte Hurtado Fußball. Während seiner Zeit bei der Berliner Stadtreinigung kommt er mit dem 1. FC Union Berlin in Kontakt. Er geht zu den Heimspielen der Mannschaft. Als dann Ende 2003 ein Platz im Aufsichtsrat frei wird, nimmt er die Herausforderung an. „Wenig später war ich Aufsichtsratsvorsitzender.“ Ein Ehrenamt in schweren Zeiten. Die Köpenicker waren in die Regionalliga abgestiegen, ein Jahr später rutscht Union sogar in die Oberliga ab. Der Verein steckt in der Krise, auch finanziell. Eigentlich ein Fall für den Insolvenzverwalter. Hurtado besinnt sich auf seine Stärke – und hört zu. Den Mitgliedern, der Mannschaft, den Fans. „Wir arbeiteten einen Rettungsplan aus, wie der Verein wieder auf die Beine kommen kann.“ Als er 2014 sein Amt aus Zeitgründen niederlegt, steht der Verein finanziell sicher da, und das Stadion ist saniert. „Nur den Aufstieg in die Bundesliga, den haben wir leider nicht geschafft.“

Im Jahr 2007 führt ihn sein Lebensweg nach Sachsen. Die Stelle als Professor für Wasserstoff- und Kernenergietechnik an der TU Dresden muss neu besetzt werden. „Diese Chance kam genau im richtigen Moment“, erzählt er. Er sehnte sich ein bisschen nach der Wissenschaft. Zwei Jahre später wird er Institutsleiter. Als Prorektor für Universitätsentwicklung darf er heute aber nicht nur sein eigenes Institut im Blick haben, sondern die gesamte Universität. „Das ist ein bisschen wie im Fußballverein.“ Nur größer. Aber auch hier kämen Menschen mit ganz unterschiedlichen Meinungen zusammen. „Wenn wir weiterhin eine exzellente Universität haben wollen, wenn wir uns weiterentwickeln wollen, sind die Menschen hier wichtig.“ Sie müsse man mitnehmen. Ohne sie gehe es nicht.

Also hört er weiter zu. Nimmt sich Zeit für Ideen, lässt sich von Ängsten erzählen. Als er vor einem Jahr antritt, gibt es schon lange Pläne, die Struktur der Universität zu ändern, die 18 Fakultäten neu zu gruppieren. Lange Zeit war die Skepsis groß. „Ich habe mir alles angehört und wir haben gemeinsam Lösungen gefunden.“ Im Sommer 2017 war es dann geschafft. Die fünf Bereiche Mathematik und Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Bau und Umwelt sowie Medizin hatten sich gefunden.

Antonio Hurtado liebt seine Arbeit, ist gern in Dresden. In der Neustadt hat er eine Wohnung. Studenten wundern sich, wenn sie ihren Prof abends in einer der Kneipen treffen. Die Familie ist nach einigen Umzügen erst mal in Berlin geblieben. Die drei Söhne seien aber eh schon erwachsen und machen ihr eigenes Ding. Am Wochenende geht es dann heim und auch zum Heimspiel bei Union. Mit seiner Fußballleidenschaft ist Hurtado nicht allein im Rektorat. TU-Rektor Hans Müller-Steinhagen ist bekennender Dynamo-Fan. Führt das zu Problemen? „Wir respektieren einander sehr, auch was Fußball angeht.“ Bei Konflikten wird geredet – und zugehört.