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Flucht in den Tod

Eine Rentnerin fällt nicht auf die Nazis herein und muss am Ende doch mit ihrem Leben bezahlen.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Gedemütigt, entrechtet. So steht es auf dem messingbeschlagenen Pflasterstein, der am 5.12.2013 vor der Hafenstraße 29, einem Bürogebäude des Welcome Park-Hotels, vom Künstler Gunter Demnig verlegt wurde. Darüber ein Name und eine Jahreszahl: Marie Moskowitz, Jahrgang 1863.

Dieser Stein – und das Schicksal, das dahinter steckt – ist anders als alle anderen, die bisher in Meißen für die Opfer des Nationalsozialismus’ verlegt wurden. Nicht nur, weil der Mensch, an den so erinnert wird, deutlich älter war als die anderen Juden, denen in Meißen Steine gewidmet sind. Sondern auch, weil Marie Moskowitz gar nicht von den Nazis ermordet wurde. Ihr Leben fand ein anderes, nicht weniger trauriges Ende.

Am 1. April 1863 wird Marie Moskowitz in Würsche, Kreis Kalisch (Polen) geboren. Wie ihre Eltern ist sie Jüdin. Um die Jahrhundertwende kommt sie nach Meißen, lebt hier als einfache Arbeiterin zunächst unbescholten. Doch spätestens in den 30er Jahren spürt sie den zunehmenden Hass gegen die Juden, die auch in Meißen immer mehr verfolgt und entrechtet werden.

Bei der Reichskristallnacht am 9. November 1938 ist sie schon Rentnerin. So ist sie zumindest nicht unter denjenigen, deren Geschäfte, wie das von Rosa Cohn, in dieser Nacht völlig verwüstet werden. Auch die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938, die Juden zur Besitzlosigkeit verdammt, trifft sie nicht persönlich.

Vielleicht bleibt sie deshalb noch hier, in ihrer Wahlheimat, während jüngere, vermögendere Juden bereits zu Massen die Stadt und auch das Land verlassen, solange sie noch können.

Vielleicht fühlt sie sich persönlich angesprochen, als am 23. Juli 1939 die NS-Gauzeitung „Der Freiheitskampf“ erklärt, dass alle „einst ohne Hab und Gut aus dem Osten nach Meißen“ gekommenen Juden „hier die Bevölkerung betrogen und ausplünderten“.

Ab dem 15. September 1941 – die planmäßige Ausrottung der noch im Reich verbliebenen Juden hat längst begonnen – muss auch Marie Moskowitz den Judenstern tragen. Ihrem Namen ist inzwischen zwangsweise ein „Sara“ hinzugefügt worden. Marie allein klingt zu deutsch.

Die Seniorin unternimmt alles, um dem Holocaust irgendwie zu entfliehen, konvertiert schließlich sogar zum katholischen Glauben, ohne jedoch dadurch der Verfolgung zu entgehen.

Den älteren Juden, die noch nicht geflohen sind oder deportiert wurden, wird ab 1942 erzählt, sie bekämen eine „anderweitige Unterbringung“ in einer Art Altersheim in Theresienstadt. Dafür bezahlen sie mit all ihrem verbliebenen Vermögen und häufig mit dem Leben.

Marie Moskowitz lässt sich nicht täuschen. Sie weiß, oder ahnt, was sie erwartet. Am 23. April 1942 nimmt sie sich in ihrer Wohnung in der Hafenstraße das Leben durch Gasvergiftung. Sie ist 79 Jahre alt.