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Flinke Finger in der alten HO

Ein Montageservice hat das frühere DDR-Lebensmittelgeschäft in Großröhrsdorf übernommen. Und er wächst.

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© Matthias Schumann

Von Reiner Hanke

Großröhrsdorf. In das frühere HO-Lebensmittelgeschäft in Großröhrsdorf an der Bischofswerdaer Straße ist wieder Leben eingezogen. Allerdings keine Lebensmittel. Die waren ohnehin schon lange nicht mehr in dem DDR-Flachbau der damaligen Handelsorganisation (HO) zu haben.

Blick durch die Lichtlupe bei der Qualitätskontrolle kleiner Teile.
Blick durch die Lichtlupe bei der Qualitätskontrolle kleiner Teile. © Matthias Schumann
In der früheren Lebensmittel-HO in Großröhrsdorf hat sich jetzt ein Montageservice angesiedelt. Das Geschäft entwickelt sich gut.
In der früheren Lebensmittel-HO in Großröhrsdorf hat sich jetzt ein Montageservice angesiedelt. Das Geschäft entwickelt sich gut. © Matthias Schumann

Bevor die Halle jahrelang leer stand, wurden hier zuletzt Matratzen verkauft. Nun hängt eine Ameise als Ausleger an der Fassade: „Sie soll zum Nachdenken anregen, was jetzt hier drin passiert“, sagt Manuela Berthold aus Großröhrsdorf. Die Ameise ist Symbol für emsiges Treiben und Teamarbeit. Dafür stehe das Unternehmen. Manuela Berthold ist die Chefin der Firma. Die hat sich hier neu eingerichtet. Ganz neu ist sie nicht im Rödertal. Mitte des vorigen Jahrzehnts wagte die jetzt 50-Jährige den Start in die Selbstständigkeit.

Damals gingen in Großröhrsdorf die JM Kunststoffwerke in die Insolvenz, erinnert sich Ehemann Lutz Berthold. Ein Schulfreund übernahm das Unternehmen, aber ohne den Montagebereich. Den bot er Manuela Berthold an. Gerade für Frauen war es damals schwer, einen Job zu finden, noch dazu mit kinderfreundlichen Arbeitszeiten. So habe sie eine Nacht überlegt und Ja gesagt: „Ich hatte nichts zu verlieren“, sagt sie heute. Das war der Anfang. Der Montageservice mietete sich im Kunststoffwerk ein. Das hat jetzt ebenfalls den Betrieb eingestellt. Aber der Montageservice – seit 2014 GmbH – beschäftigt inzwischen an die 30 Leute, vorwiegend Frauen. Heute arbeiten sie für etliche Firmen in der Region. Sie prüfen, arbeiten nach, sortieren und verpacken. „Ich hätte damals nicht gedacht, dass die Firma so lange läuft. Wir suchen händeringend nach gutem Personal“, sagt die Geschäftsführerin.

Der Firmensitz ging mit dem Ende des Kunststoffwerks allerdings verloren. Auf die leer stehende HO war die Chefin schon aufmerksam geworden und sicherte sich die Räume. Die Mitarbeiter sprechen nur noch von „unserer HO“. Am neuen Standort hat sich der Betrieb in den vergangenen Wochen eingerichtet, und die Räume sind fast schon wieder zu klein. „Wir haben u. a. in die Dachbodendämmung, Farbe, die Heizung, Möbel und die Sanitärräume investiert“, sagt Lutz Berthold. Außen muss sich noch einiges tun. Zum Beispiel bei der Wärmedämmung. Aber immer der Reihe nach ist ein Firmengrundsatz seiner Frau.

Im Betrieb ist an dem Morgen gerade etwas Wooling angesagt. Transportwagen rumpeln über die Rampe. Die Lieferung für eine Spritzgießerei in Neustadt wird zusammengepackt. Dann hat die Chefin wieder mehr Luft und erklärt: „Das ist unser größter Auftraggeber.“ Ein anderer sitzt in Neusalza-Spremberg. Für den prüfen die Mitarbeiter im Montageservice kleine Kunststoffringe auf ihre Qualität. Die werden zur Kabelführung in der Autoindustrie gebraucht. Die schlechten werden aussortiert. Flinke Finger brauchen die Frauen und Männer. Und ein gutes Auge, um Fehler sofort zu erkennen. Das hat Peggy Eisold. Sie sitzt vor einem großen Karton mit solchen Kunststoffringen. Sie lässt konzentriert die Augen und Finger über die Konturen wandern und schnippelt die Ringe auseinander. Flink, wie die Logoameise. „Solche Verfärbungen dürfen zum Beispiel nicht sein“, sagt sie und zeigt auf braune Pünktchen.

Andere Mitarbeiter sitzen vor einem Berg von winzigen Steckern. Manche Frauen schauen durch eine Lupenlampe, um die Fehler besser ausmachen zu können. Das strengt an und die Augen brauchen ab und zu eine Pause. Auch Nacharbeiten sind nötig. Manchmal greifen die Mitarbeiter sogar zum Skalpell, um überflüssige Grate zu entfernen.

Sie arbeite gern hier, sagt Peggy Eisold. Schon seit drei Jahren. Es kommen immer wieder andere Produkte, das sorge für Abwechslung. Außerdem sei es mit zwei Kindern nicht so leicht einen Job zu finden. Hier werde viel ermöglicht. Das hängt vielleicht auch mit der Chefin und eigenen Erfahrungen zusammen. „Die Qualitätsanforderung ist sehr hoch“, sagt Ehemann Lutz Berthold. Die Mitarbeiter seien sich der Verantwortung aber bewusst. „Sie sind unser Know-how.“ Etliche sind schon viele Jahre im Unternehmen und mit Erfahrung. Er selbst habe jetzt seine Arbeit in der Versicherungsbranche aufgegeben und absolviere ein Fernstudium zum Qualitätsmanager, genau passend zu den Aufgaben im Unternehmen. Er unterstütze seine Frau, werde aber erst im Herbst so richtig in die Firma einsteigen. Seit zwei Jahren ist die auch verstärkt in den Verpackungsbereich eingestiegen. Gerade in der Vorweihnachtszeit, da duftete es besonders angenehm in der Halle. Die Mitarbeiter verpackten Badekosmetik in Geschenksets.

Unterschiedliche Standbeine sind wichtig. Manuela Berthold erinnert sich an die Krisenzeit 2008: „Wir wussten über Nacht plötzlich nicht mehr, woher wir Arbeit nehmen sollten.“ Derzeit hat die Firma einen Umsatz von etwas über einer halben Million Euro und rechnet in diesem Jahr mit einer Steigerung um 20 Prozent. Neben der Montage in der „HO“ ist das Unternehmen auch direkt vor Ort in fünf Firmen der Region mit Mitarbeitern tätig. So profitiert auch die HO-Belegschaft zurzeit von der brummenden Konjunktur. Und alle hoffen, dass es so bleibt.