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Ferienfahrt in den Tod

Das Busunglück vom Montag beschäftigt die Region. Vor 40 Jahren erschütterte ein ähnliches Ereignis auf einer Urlaubsfahrt die Gegend: Der Schnellzug Zittau–Stralsund stieß bei Frankfurt/Oder mit einem Güterzug zusammen.

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© Archivfotos/Repro: Jens Böhme

Von Bernd Dreßler

Ab in die Ferien, ab an die Ostsee. Der Saisonschnellzug Zittau–Stralsund war für Badehungrige wie geschaffen, auch am 26. Juni 1977, einem Sonntag. Auf dem Zittauer Bahnhof verabschiedeten sich gegen 21 Uhr Ferienkinder von ihren Eltern, Familien hatten die Urlaubskoffer gepackt. 21.45 Uhr nahm der D 1918 in Löbau weitere Reisende auf und eilte, gezogen von der ölbefeuerten Dampflok 030078, gen Norden durch die Dunkelheit. Bis kurz vor 1.30 Uhr, der Montag war inzwischen angebrochen, herrschte friedliches Nachtzug-Fluidum. Viele Fahrgäste schliefen.

Vom Bahnhof Zittau aus (links) startete am 26. Juni 1977 der Ferienschnellzug Zittau–Stralsund. Er sollte nie dort ankommen. Durch eine falsche Weichenstellung stieß er bei Lebus mit einem Güterzug zusammen.
Vom Bahnhof Zittau aus (links) startete am 26. Juni 1977 der Ferienschnellzug Zittau–Stralsund. Er sollte nie dort ankommen. Durch eine falsche Weichenstellung stieß er bei Lebus mit einem Güterzug zusammen. © Archivfotos/Repro: Jens Böhme

Etwa gegen 1.25 Uhr, Frankfurt/Oder war passiert, kam das Inferno. Es gab einen furchtbaren Knall, der Ostseezug prallte bei Lebus in voller Fahrt auf einen entgegenkommenden Güterzug. Unvorstellbare Kräfte wirkten. Der aus Zittau stammende Eisenbahn-Journalist Erich Preuß (1940 bis 2014) beschrieb das Szenario so: „Beide Züge hatten sich derart ineinandergeschoben, dass der erste Reisezugwagen nicht mehr zu sehen war.“ Zum Glück blieb dieser wie von einer Schrottpresse zusammengefaltete Waggon fast leer. Er soll für eine Gruppe aus der Sowjetunion reserviert gewesen sein, die in Cottbus zusteigen sollte, aber den Zug verpasste.

Paul Zander, der direkt am ehemaligen Bahnhof Lebus wohnt, war damals bei der Bahnfeuerwehr. Er und seine Frau Gisela sehen immer noch den hochaufgerichteten Tender der Dampflok vor sich, der nicht nur den Heizer einklemmte, sondern aus dem auch Öl lief, was zu brennen begann, wie Zanders jetzt der SZ berichteten. Der Brand dehnte sich auf beide Lokomotiven und die ersten drei Güterwagen aus.

Die aus Löbau stammende Zugbegleiterin Helga Paulick hielt sich zu dieser Zeit gerade im mittleren Zugteil auf, als es einen mächtigen Schlag gab. Der Zugführer kam ihr durch eine Schwenktür entgegen geflogen. „Es war furchtbar“, sagte die heute 79-Jährige der SZ, „vorne brannte alles. Aber die Fahrgäste waren eingeklemmt, niemand konnte ihnen helfen!“

Die Rettungsmannschaften, die zum Unglücksort eilten, mussten an ihre Grenzen gehen, Übermenschliches leisten. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN berichtete: „Die Gesichter aller Helfer widerspiegeln die Anstrengungen der letzten Stunden. Es ist 9 Uhr an diesem Montag. In diesen Minuten wird mithilfe schwerer sowjetischer Technik der letzte von zwei total beschädigten D-Zug-Wagen, der unmittelbar hinter der Lokomotive gekoppelt war, von den Gleisen geräumt… Die Hoffnung, noch verletzte Überlebende zu bergen, ist noch nicht aufgegeben.“

Es war ein winziger Strohhalm, an den man sich klammerte, nachdem weit über 20 Todesopfer geborgen waren, darunter auch die Lokbesatzung der 03 und der Beimann der Güterzug-Diesellok. Deren Lokführer war in letzter Sekunde vom Zug gesprungen, als er die Lichter des entgegenkommenden Zuges wahrgenommen hatte. Zu den tödlich Verunglückten gehörten 15 Einwohner aus dem damaligen Kreis Zittau, sechs aus dem Kreis Löbau. Besonders tragisch war, dass viele Kinder im Alter zwischen 10 und 14 Jahren darunter waren. Sie wollten ins Ferienlager des VEB Getriebewerk Zittau. Auch ein Schüler der NVA-Offiziershochschule der Volksmarine Stralsund aus Zittau überlebte mit seiner Verlobten das Unglück nicht. Sie wollten bald heiraten. Eine Familie aus Obercunnersdorf konnte nur noch tot aus den Zugtrümmern geborgen werden, ebenso eine junge Mutter mit ihrer Tochter aus Weigsdorf-Köblitz. Die Angehörigen bekamen sofort Hilfe. Die Räte der Kreise Zittau und Löbau stellten den Betroffenen einen verantwortlichen Mitarbeiter zur Seite.

Wie konnte es zu diesem Unglück kommen? Weil im Bahnhof Booßen nördlich von Frankfurt/Oder außerplanmäßig ein Güterzug abgestellt wurde, war für die Durchfahrt des Schnellzuges Zittau–Stralsund eine Weiche zu bedienen. Das musste von Hand geschehen, die dafür vorgeschriebene Sicherungstechnik war nicht vorhanden. Der zuständige Weichenwärter stellte zwar den Fahrweg ein, sicherte ihn aber aus Bequemlichkeit nicht. Dann schlief er ein. So fuhr der D 1918 statt nach Seelow–Angermünde in die falsche Richtung nach Kietz, wo er bei Lebus auf den Güterzug prallte. Damit war der Weichenwärter als allein Schuldiger an der Katastrophe mit 29 Toten, sieben Verletzten und vier Millionen Sachschaden schnell ausgemacht. Keine drei Wochen später wurde der Eisenbahner zu fünf Jahren Haft und „Schadenersatz in gesetzlich zulässiger Höhe“ verurteilt. Ihm wurden „aus Bequemlichkeit und Nachlässigkeit eine Kette von schwerwiegenden Pflichtverletzungen gegenüber den Dienstvorschriften“ zur Last gelegt. Mit keinem Wort wurden die unzureichenden Sicherungsanlagen auf dem Bahnhof Booßen erwähnt. Man hätte damit den damaligen DDR-Verkehrsminister Otto Arndt Lügen gestraft, der unmittelbar nach dem Unglück im Fernsehen erklärte: „Die vorhandenen Sicherungsanlagen arbeiteten einwandfrei.“

Erst Ende 1979, eineinhalb Jahre nach der Katastrophe, bekam Booßen, von der Öffentlichkeit unbemerkt, ein elektromechanisches Stellwerk. Es brachte die Toten von Lebus nicht ins Leben zurück.