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Feldbetten und Feuerstühle

Das Rolli-Camp des DRK gibt es seit 27 Jahren. Für Menschen mit Behinderung bedeutet es Freiheit und Abenteuer.

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© Frank Baldauf

Von Jane Jannke

Munteres Stimmengesumm und Geschirrgeklapper hallt durch den Wald am Rande von Oelsa. Unter weißen Zelthimmeln herrscht hinter dem Waldstadion gegen halb neun am Sonntagmorgen reges Frühstückstreiben. Im Rollilager, das der Kreisverband Freital des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) hier bereits zum 27. Mal organisiert hat, sind alle früh aufgestanden, denn ein Highlight steht an: Auf Feuerstühlen geht es heute auf große Tour durchs sommerliche Osterzgebirge.

Ein echter Blickfang: Heiko Baackes (hier mit Tochter Marie-Constanze) Chang Jang Baujahr 1957. Rolli Dennis Fritsche (im Beiwagen) hatte sich gleich verliebt.
Ein echter Blickfang: Heiko Baackes (hier mit Tochter Marie-Constanze) Chang Jang Baujahr 1957. Rolli Dennis Fritsche (im Beiwagen) hatte sich gleich verliebt. © Frank Baldauf
Nach der Motorradspritztour ließen sich die Rollis von Mühlenführer Klaus Metze (77) die Geheimnisse der Bärenhecker Getreidemühle erklären. Fotos (3): Frank Baldauf
Nach der Motorradspritztour ließen sich die Rollis von Mühlenführer Klaus Metze (77) die Geheimnisse der Bärenhecker Getreidemühle erklären. Fotos (3): Frank Baldauf © Frank Baldauf

An der langen Frühstückstafel sitzen Menschen unterschiedlichen Alters. Das Fortbewegen auf Rädern kennen die meisten gut, denn viele von ihnen sind dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Andere können zwar problemlos laufen, weisen aber leichte geistige Defizite auf. Mitten unter ihnen – die DRK-Betreuer, von den Rollifahrern auf den ersten Blick nur durch ihre leuchtend roten Hemden zu unterscheiden. Viele von ihnen opfern ihren Urlaub oder haben ihre Kinder mitgebracht, um den 20 Teilnehmern des Rollilagers dieses Abenteuer zu ermöglichen.

Versteckt im Wald liegen die 13 weißen Großraumzelte, die für die Rollis zwei Wochen lang zum provisorischen Zuhause werden. Der Katastrophenschutz hat sie bereit gestellt. Geschlafen wird im Feldbett – „immer zwei Teilnehmer und je ein Betreuer“, erklärt DRK-Mitarbeiterin Carmen Gelbricht. Die 35-Jährige ist hoch schwanger. „Da kann es gleich mit reinwachsen“ sagt sie strahlend und streicht sich über den Bauch. Früher habe man nur einfache Armeezelte gehabt, und Klos im Wald. Da habe sich viel getan in Sachen Komfort. Statt des Donnerbalkens im Bauwagen gibt es heute barrierefreie Spülklosetts und Warmwasser im modernen Container. Früher, das war vor über 20 Jahren, als Gelbricht als 14-Jährige erstmals im Rolli-Lager aushalf – als Aufwäscherin. Heute leitet sie das Camp.

Sportfeste, Semperoper, Dampferfahrt – jedes Jahr wird es für die Organisatoren schwieriger, sich neue, originelle Programmpunkte einfallen zu lassen. Zwei Wochen wollen mit spannenden Erlebnissen gefüllt werden, und die Kasse ist chronisch klamm. Schon jetzt werden Ideen für das nächste Camp gesammelt. „Viele Veranstalter bieten uns zwar verbilligte Konditionen an, aber manches geht schlichtweg nicht“, so Gelbricht. Auch geeignete Helfer zu finden sei nicht so leicht. „Die Leute müssen ja 24 Stunden am Tag einsatzbereit ein.“ Ein Drittel verfügt über eine einschlägige Ausbildung im Pflegebereich, denn manche der Teilnehmer brauchen auch hier im Wald intensive Betreuung. Erst in diesem Jahr musste abermals der Teilnehmerbeitrag angehoben werden, um alles stemmen zu können.

Viele Rollis sind „Wiederholungstäter“, so wie Bernd Resch. Der 43-Jährige aus Dresden hält dem Lager seit 20 Jahren die Treue. Auf die alljährliche Motorradausfahrt freut er sich stets am meisten, denn Resch, der mit einem offenen Rücken zur Welt kam und seither nur kurze Strecken mit Krücken gehen kann, liebt Motorräder. „Da ist es fast so als hätte man keine Behinderung. Für den Ausritt hat er sich heute extra in zünftige Bikerkluft geworfen.

Gegen kurz nach zehn Uhr kommt Bewegung auf: Alle Mann aufsitzen! Für die meisten Rollis heißt das: den Rollstuhl gegen einen schnittigen Beiwagen tauschen. Nur Bernd Resch schwingt sich auf den Rücksitz einer kraftvollen Rennmaschine. Die Fahrer sind teils von weiter her angereist. Heiko Baacke etwa ist mit Tochter Marie-Constanze (10) und einem echten Schmuckstück aus Seligstadt bei Meißen gekommen: eine Chang Jang, Baujahr 1957. Dennis Fritsche aus Dresden ist sofort fasziniert: das wird seine.

Im Spaziertempo geht es über Seifersdorf, Dipps, Schmiedeberg und Geising nach Bärenfels. Ziel ist die Schaumühle der Bäckerei Bärenhecke. Über mehrere Hundert Meter schlängelt sich der mit Blaulicht gesicherte Tross der Motorräder die Landstraße entlang. In den Dörfern lockt die sonntägliche Attraktion zahlreiche Schaulustige vors Haus. Weil Heiko Baackes Chang Jang die langsame Fahrt nicht bekommt, muss bei Schellerhau ein Zwangsstopp eingelegt werden, um die alte Dame abzukühlen. Nach anderthalb Stunden hält der Konvoi vor der legendären Bäckerei. Aus den vielen Gesichtern spricht pures Glück und auch ein wenig Erschöpfung.

Bei Eierschecke und Kaffee gesteht Bernd Resch, dass er lieber Shopper als Yamaha gefahren wäre. Aber das sei kein wirklicher Wermutstropfen. Für ihn und alle anderen bedeutet der Trip ein Stück Freiheit. Ob er es eigentlich gerne hört, wenn einer ihn ‚behindert‘ nennt? „Das kommt drauf an, wer das sagt. Behindert ist man eigentlich nicht, behindert wird man.“ Heute war das mal anders.