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Fasziniert vom Stromfresser

Die knapp 2 000 Gäste sind so beeindruckt vom Besuchertag bei den Schmiedewerken, dass sie glatt einen historischen Moment verpassen.

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© Lutz Weidler

Von Kathrin Schade

Gröditz. Den 6 000er Koloss und seine alten Schmiedekollegen wiedersehen, das wollte sich der gelernte Schweißer Erhard Boldt nicht entgehen lassen. Deshalb war der 6. Mai schon lange rot eingekreist an seinem Kalender: Die Gröditzer Schmiedewerke hatten zum Tag der offenen Tür eingeladen. o wie der 67-Jährige aus Elsterwerda pilgerten hunderte Interessierte am Samstagmorgen zum Osttor. „Wir hatten schon mit solch einem Ansturm gerechnet“, sagt Betriebsratschef Uwe Jahn. Darum sei die erste Besuchergruppe nicht wie geplant 9 Uhr, sondern auf Grund des großen Andrangs schon vor dem offiziellen Start los.

Bilder vom Besuchertag bei den Schmiedewerken

Treff am Haupttor. Viele Besucher waren bereits vor 9 Uhr da.
Treff am Haupttor. Viele Besucher waren bereits vor 9 Uhr da.
Warten auf den Rundgang.
Warten auf den Rundgang.
Blaue, weiße, rote und gelbe Helme - jede Besuchergruppe war so gut auseinander zu halten.
Blaue, weiße, rote und gelbe Helme - jede Besuchergruppe war so gut auseinander zu halten.
Die Besucher mussten in den einzelnen Abteilungen Geduld beweisen, denn es kam oft zum Gruppenstau.
Die Besucher mussten in den einzelnen Abteilungen Geduld beweisen, denn es kam oft zum Gruppenstau.
Zweifelsohne ein Besuchermagnet: die 6000 Tonnen Presse in der Schmiede.
Zweifelsohne ein Besuchermagnet: die 6000 Tonnen Presse in der Schmiede.
Am 1. April 1954 wurde die 6000 Tonnen Presse in Betrieb genommen. Neben all der Technik ist auch Augenmaß gefragt.
Am 1. April 1954 wurde die 6000 Tonnen Presse in Betrieb genommen. Neben all der Technik ist auch Augenmaß gefragt.
Längst ist das Meer von Schornsteinen verschwunden. Nur noch einzelne aus Stein sind übrig geblieben, blecherne sind hinzugekommen.
Längst ist das Meer von Schornsteinen verschwunden. Nur noch einzelne aus Stein sind übrig geblieben, blecherne sind hinzugekommen.
Auf dem Weg zur Schmiede.
Auf dem Weg zur Schmiede.
Auf geht es zur nächsten Abteilung ....
Auf geht es zur nächsten Abteilung ....
Blick auf die mit Flüssigstahl gefüllte Pfanne.
Blick auf die mit Flüssigstahl gefüllte Pfanne.
Der Elektroofen im Stahlwerk.
Der Elektroofen im Stahlwerk.
Besucher im Stahlwerk auf dem Weg nach oben, um bessr auf den Elektroofen schauen zu können.
Besucher im Stahlwerk auf dem Weg nach oben, um bessr auf den Elektroofen schauen zu können.
Hier geht es heiß her.
Hier geht es heiß her.
Blick in die Stahlwerkshalle - alles hat seinen Platz.
Blick in die Stahlwerkshalle - alles hat seinen Platz.
Hier brodelt's gewaltig.
Hier brodelt's gewaltig.
Die nächste Besuchergruppe macht sich auf den Weg.
Die nächste Besuchergruppe macht sich auf den Weg.
Nur wenige Gäste wussten von der Enthüllung einer Bronzetafel am Haupteingang.
Nur wenige Gäste wussten von der Enthüllung einer Bronzetafel am Haupteingang.
Ein historischer Moment: Kurz nach 10 Uhr wurde diese Bronzetafel von Bürgermeister Jochen Reinicke (re.), dem Geschäftsführer Technik der Schmiedewerke Karsten Golinske (Mitte) und Prof. Kawalla von der Bergakademie Freiberg eingeweiht. Sie soll an den berühmten Werkstoffforscher Adolf Ledebur erinnern.
Ein historischer Moment: Kurz nach 10 Uhr wurde diese Bronzetafel von Bürgermeister Jochen Reinicke (re.), dem Geschäftsführer Technik der Schmiedewerke Karsten Golinske (Mitte) und Prof. Kawalla von der Bergakademie Freiberg eingeweiht. Sie soll an den berühmten Werkstoffforscher Adolf Ledebur erinnern.
Seit Sonnabend ziert diese bronzene Gedenktafel den Haupteingang zum Verwaltungsbebäude der Gröditzer Schmiedewerke GmbH.
Seit Sonnabend ziert diese bronzene Gedenktafel den Haupteingang zum Verwaltungsbebäude der Gröditzer Schmiedewerke GmbH.

„Hut ab vor den Organisatoren“, lobt Erhard Boldt. Alles sei perfekt geplant. Ihm und vielen anderen Gästen störte es nicht, dass sie warten mussten – manche sogar bis zu zwei Stunden – auf den etwa zweistündigen Rundgang durch das saubere und gepflegte Betriebsgelände. Aller 20 Minuten startete eine 20-Mann-Gruppe. Dank ihrer roten, gelben, weißen und blauen Helme war jede Truppe gut auseinanderzuhalten. Diszipliniert und geduldig folgten die Besucher den Betriebsführern durch das Stahlwerk und Ringwalzwerk, durch die Schmiede, Vergüterei und Mechanische Werkstatt. Den Besucherstau in den Abteilungen nutzten die Gäste, um Fragen zu stellen. Viele Fragen. Denn immerhin kann der Stahlstandort Gröditz mittlerweile auf eine über 235-jährige Geschichte zurückblicken.

Auch Erhard Boldt, viele andere Mitarbeiter und Besucher ebenso, haben ein Stück dieser Geschichte mitgeschrieben. „Die knapp 50 Jahre seit meiner Lehre 1965 bis zum Abschied in die Altersteilzeit vor drei Jahren – die haben mich geprägt, die kann man nicht so einfach links liegenlassen“, sagt er sichtlich gerührt. Die Schmiede sei sozusagen sein zweites Wohnzimmer gewesen, kuschlig warm sogar. Hier habe er an der Brennmaschine zig tausend Schmiedestücke auf Maß gebrannt. Er fühle sich einfach noch dazugehörig.

„Ich erinnere mich nur zu gut daran, dass wir beispielsweise im Januar 2000 bei eisiger Kälte genau hier am Osttor das Werk besetzt und gestreikt haben“, erzählt Boldt weiter. Die Belegschaft sei empört über die Insolvenzanträge für die Töchter gewesen. „Groß war die Angst, dass von den einst über 4 000 Mitarbeitern auch noch die restlichen 700 gehen sollten ...“.

Während der Brandenburger auf seinen 10-Uhr-Termin für den Rundgang wartet, kommen die ersten Gruppen wieder zurück. „Das war einfach nur geil“, so das Resümee von Nico aus Großenhain. Er und sein Freund Daniel sind auf Lehrstellensuche. Sie wollten auch den Besuchertag im traditionellen Stahlunternehmen für ihre Berufswahl nutzen. „Und das war gut so“, sind sich beide einig. „Hier stimmt wenigstens die Kohle, es wird nach Tarif bezahlt“, begründen die Neuntklässler ihr Ziel, die Fühler nach einem Ausbildungsplatz bei den Schmiedewerken auszustrecken.

„Schon mein Opa fuhr damals jeden Tag mit dem Schichtbus von Großenhain nach Gröditz. Er arbeitete in der Gießerei. Die gibt es ja nun nicht mehr“, sagt Nico. Damals habe er sich nicht für die Geschichten, die sein Großvater über seine Arbeit und das Werk erzählt hat, interessiert. Auch konnte er nie nachvollziehen, wie sein Opa trotz Knochenarbeit, Dreck und Hitze so von seinem Job schwärmen konnte. Heute denkt der 15-Jährige anders darüber: „Allein der heiße Funkenregen beim Abstich am E-Ofen – wie schon gesagt, das war einfach nur genial!“

Beeindruckt waren die Teenager auch von den andern Zahlen und Fakten, die zum Beispiel Stahlwerksleiter Stefan Lachmann den Gästen erklärte, wie die 1 700 Grad des Flüssigstahls oder die 10 000 Kilowatt, die der Elektroofen pro Stunde verbraucht, und das sieben Tage 24 Stunden lang. Zum Vergleich: Ein normaler Vier-Personen-Haushalt schafft es auf 5 000 Kilowattstunden pro Jahr.

Doch ein weitaus größerer Koloss und Besuchermagnet steht in der Schmiede. Hier wurde am 1. April 1954 die 6 000-Tonnen-Presse in Betrieb genommen. Und während die staunenden Besucher mitverfolgen können, wie ein etwa sieben Meter langer, noch glühender Stabstahl millimetergenau gepresst und immer wieder gedreht wird, schwenkt in sicherem Abstand ein glühender Kappenringrohling an einem Hochkran durch die Schmiedehalle ins Kühlbad. „Diese Schutzkappen liefern wir nach Essen. Sie werden für Generatoren gebraucht“, erklärt Firmen-Mitarbeiterin Ina Klix. Auch, dass die auf dem Blockplatz lagernden gewaltigen Kurbelwellen Vorprodukte für das Schwesterunternehmen in Wildau sind. Es ist eines von 22 eigenständig mittelständischen Unternehmen der Georgsmarienenhütte-Gruppe, zu der auch die Schmiedwerke Gröditz GmbH gehört. Sie sind in Deutschland, Österreich, Australien und den USA zu Hause.

Keinesfalls weniger interessante Zahlen und Fakten hatte der Geschäftsführer für Technik Karsten Golinske für die Besucher parat. Allerdings etwas unbemerkt, nämlich am anderen Ende des Werkes – am Haupteingang des Verwaltungssitzes an der B 169. Getreu dem Motto „von Sachsen in die ganze Welt“ könne das Unternehmen eine 66-prozentige Exportquote seiner hochwertigen Produkte vorweisen. Stolz sei er auch darauf, dass die 725 Mitarbeiter (darunter 45 Azubis) im Jahr 2016 einen Nettoumsatz in Höhe von 177 Millionen Euro erwirtschaftet haben. Nun gelte es, auch weiterhin alles dafür zu tun, um wettbewerbsfähig zu bleiben, betonte er.

Von dem darauffolgenden „historischen Moment“ wie ihn Bürgermeister Jochen Reinicke bezeichnete, bekamen nur wenige der knapp 2000Gäste des Besuchertages mit. Gemeinsam mit Prof. Kawalla von der Bergakademie Freiberg enthüllten Reinecke und Golinske eine Bronzetafel. Sie soll an Prof. Karl Heinrich Adolf Ledebur erinnern, der von 1871 bis 1884 Hüttenmeister in den Gräflich Einsiedlichen Hüttenwerken Gröditz tätig war. Er ist ein berühmter Werkstoffforscher und Entdecker das nach ihm benannten Ledeburit.

„Ehrlich, diese Enthüllung ging heute auch noch über die Bühne?“ zeigt sich Erhard Boldt überrascht und gesteht, dass solche offiziellen Acts ohnehin nie sein Ding waren. Viel wichtiger sei ihm da der Besuch seiner Schmiede, sowie das Schwelgen in Erinnerungen mit alt alten Stahlwerkern gewesen, die er hier getroffen hat. Und zum Abschied ruft Boldt in die Männer-Runde: „Auf Wiedersehen, Kumpels! Bleibt gesund!“