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Fast vergessenes Erinnern

Ein Verbot lenkte die Aufmerksamkeit auf einen wenig beachteten Feiertag: den Volkstrauertag.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Frank Seibel

Görlitz. Das Wetter hat sich rechtzeitig dem Ernst der Lage angepasst. Grau, nass, trist. So geht November. Weil aber bei Weitem nicht allen Menschen klar ist, dass es vor der Adventszeit nochmal wirklich dunkel und ernst wird, hat die Kreisverwaltung kürzlich noch nachgelegt. An diesem Sonntag, dem kommenden und am kommenden Mittwoch sollte es bitteschön keinerlei öffentliche Bespaßung geben. Das Verbot für eine Modellbahnausstellung in Zittau wurde zwar auf politischen Druck zwischenzeitlich vom Innenministerium wieder aufgehoben. Aber nun haben es alle mal gehört: Volkstrauertag (19.), Buß- und Bettag (22.) und der Totensonntag (26. November) sind stille Feiertage, und es gelten die gleichen Regeln wie am Karfreitag.

Vor allem das erste Datum irritiert. Es ist einer von ganz wenigen nicht-christlichen Feiertagen, und in der DDR existierte er nicht. Der vorletzte Novembersonntag war 1987 der „Tag des Metallurgen“, ein Jahr später „Tag des Chemiearbeiters“; so steht es in zwei alten Kalendern.

Statt eines Volkstrauertages für die Opfer von Kriegen gab es im September einen Gedenktag für Widerstandskämpfer, erinnert sich der Historiker Ernst Kretzschmar. Nach dem Ende der DDR und ihrer Gedenktage gehörte der 84-Jährige zu denjenigen, die die Tradition des Volkstrauertages aufgriffen und als Mitglied des Volksbundes Kriegsgräber für Görlitz neu belebten. Und Kretzschmar war es auch, der den Ort für die jährliche Gedenkfeier auswählte: die Gedenkstele neben dem Ständehaus.

Es ist ein zwiespältiger Ort für einen nicht ganz einfachen Anlass. Denn die Stele wurde 1938 von den Nationalsozialisten errichtet, die die Erinnerung für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges pathetisch aufluden und zu einem Heldengedenken erhoben. Und zum Görlitzer Volkstrauertag gehört nun auch das feste Ritual, dass ein Kranz niedergelegt wird, der an die so- genannten „Dreißiger“ erinnert. Das ist die Bezeichnung für das 30. Infanterieregiment der Wehrmacht, das bis 1945 in Görlitz stationiert war, erläutert Kretzschmar. Den „Verband der Dreißiger“, also der Angehörigen dieses Regiments, gibt es seit einigen Jahren nicht mehr, aber bei seiner Auflösung hat er der Friedhofsverwaltung Geld hinterlassen, das nun jährlich für einen Kranz ausgegeben wird.

Mit der Stele und ihrer Entstehungsgeschichte hat er kaum Probleme. „Sie ist den Gefallenen gewidmet, und die können nichts dafür, dass das Gedenken von den Nationalsozialisten auch politisch benutzt wurde“, sagt er. Kretzschmar hält ein nationales Erinnern an die Gefallenen aus dem jeweils eigenen Land für richtig – sieht darin aber nichts Chauvinistisches. Es gehe darum, zu mahnen, dass die Völker einander friedlich und mit Respekt begegnen, sagt er. „Es sind auch immer wieder Polen zu unserer Gedenkveranstaltung gekommen, und wir sind zu Gedenkveranstaltungen nach Polen gegangen.“ Denn einen Pluspunkt, sagt er, habe diese Stele: Sie steht in unmittelbarer Nähe zur Grenze.

Das unterstreicht auch der Pfarrer der katholischen Gemeinde „Heiliger Wenzel“, Norbert Joklitschke, die sich seit Jahren, ebenso wie die evangelische Kirche, an der Gedenkzeremonie beteiligt. Dass der Fluss 1945 zur Grenze wurde, erinnere an die Folgen des Krieges, sagt er, ist sich der Zwiespältigkeit des Rituals aber bewusst. „Wir als Kirche bräuchten dieses Totengedenken nicht, denn wir besuchen am Tag ‚Allerseelen’ (1. November, d. Red.) auch die Kriegsgräber auf dem Friedhof.“ Aber in einer Gesellschaft, in der viele Menschen nicht religiös sind, sei ein weltlicher Gedenktag durchaus sinnvoll. Es wäre falsch, die gefallenen Soldaten in „gut“ oder „böse“ einzuteilen, sagt er. Die Wehrmacht sei ein Muss gewesen für junge Männer. „Wir möchten als Kirche die öffentliche Erinnerung unterstützen und auch unsere christliche Deutung mit einbringen“, sagt Joklitschke. Mittlerweile geht es am Volkstrauertag nicht mehr nur um gefallene Soldaten, sondern generell um die Opfer von Krieg und Teror auf der Welt; sogar Opfer von Naturkatastrophen werden in das Gedenken mit aufgenommen, sagt Thomas Leschke, Oberstleutnant der Reserve und stellvertretender Landesvorsitzender des Reservistenverbandes. Sein Verband unterstützt den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der Gestaltung der Gedenkveranstaltung. „Gerade in der heutigen Zeit, in der zunehmend Gewaltkonflikte zu verzeichnen sind, ist dieses Gedenken wichtiger denn je“, sagt Leschke.

Die Leiterin des Städtischen Friedhofes, Evelyn Mühle, unterstützt das Gedenken am Volkstrauertag, hält aber den Ort, die Stele von 1938, nicht für gut. Totengedenken sollte dort stattfinden, wo auch tatsächlich die Gräber sind, sagt sie. So bietet sie in jedem Jahr am Tag vor dem Volkstrauertag eine Führung zu Soldatengräbern auf dem Städtischen Friedhof an.

Nur eines bleibt irritierend: Warum sollte der Staat eine Modellbahn-Ausstellung verbieten? „Es wäre etwas anderes, wenn es um einen Faschingsumzug ginge“, sagt Pfarrer Norbert Joklitschke. Ihn stört vielmehr, dass die Gedenkstunde an der Stele um 11 Uhr beginnt. Da ist nämlich die Sonntagsmesse in der Kirche nebenan.

Führung zu Kriegsgräbern auf dem Städtischen Friedhof mit Evelyn Mühle an diesem Sonnabend, 18. November, ab 14 Uhr; Treffpunkt an der Treppe zum Krematorium.

Gedenkveranstaltung an der Stele neben dem Ständehaus, Dr. Kahlbaum-Allee/Ecke Schützenstraße, Sonntag, 19. November, 11 Uhr.