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Evas trauriger Abschied

Eine Zeitzeugin hat sich zur Nazi-Eliteschule in Radebeul gemeldet. Sie erinnert sich mit Wehmut an einen jungen Mann.

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© Norbert Millauer

Von Peter Redlich

Radebeul. Aufrecht sitzt die alte Dame in ihrem Rollstuhl in der Wohnung vom Betreuten Wohnen. Das Haar ist dicht und kräftig. Ihre wachen Augen haben den Gesprächspartner im Blick. Im Kopf kreisen die Erinnerungen. Heute ist Eva Rothmund 91 Jahre. Damals war sie 18 oder 19 Jahre. Es hatte noch nicht die schrecklichen Bombenangriffe auf Dresden gegeben und die von dort fliehenden Menschen, die in Radebeul eine Bleibe suchten.

Eva Rothmund kann sich noch gut erinnern an die Begegnungen mit den Studenten der Langemarck-Schule in der Villa in den Weinbergen.
Eva Rothmund kann sich noch gut erinnern an die Begegnungen mit den Studenten der Langemarck-Schule in der Villa in den Weinbergen. © Repro/Norbert Millauer

Für die junge Radebeuler Luisenstift-Schülerin, die mit ihren Eltern in der Rennerbergstraße oberhalb der Meißner Straße wohnte, war damals die Welt noch weitgehend in Ordnung. Mit einem sogenannten „Führer-Befehl“ ist aus der kirchlich geführten Schule zwar ein staatliche geworden, aber an den Inhalten und der „gesunden Strenge an der Mädchenschule“ habe sich nicht viel geändert, erinnert sich die Pensionärin. Und mit Nazi-Parolen hätten sich die Lehrer ohnehin zurückgehalten.

Einer der Pädagogen war besonders beliebt – der Deutschlehrer. Er hatte ebenfalls Stunden zu geben in der kleinen, besonderen Schule, die sich etwas weiter oben am Paradies befand. Dort, in der Villa, die alle die Goldschmidt-Villa nannten, weil sie einem jüdischen Bankier aus Berlin gehört hatte, war von der deutschen Reichsführung eine ihrer Eliteschulen eingerichtet worden, nachdem die Nazis die Villa arisiert hatten, wie das in deren Jargon hieß.

Die Mädchen vom Luisenstift hatten nur von der Langemarck-Stiftung gehört, benannt nach einem Ort in Belgien, in welchem deutsche Soldaten heroisch gekämpft hätten und umgekommen sind. Und, die jungen Frauen wussten, dass es hier eine vorzügliche Ausbildung gibt, die pro Jahrgang nur ein Dutzend Schüler genießen durften, welche vorher ein strenges fachliches Auswahlverfahren durchlaufen mussten und später für Verwaltungsaufgaben in den besetzten Gebieten vorgesehen waren.

Vor allem aber interessierten die Luisenstift-Mädchen die jungen Männer mit den guten Manieren selbst. Eva Rothmund und ihre Klassenkameradinnen lernten diese gebildeten Burschen aus ganz Deutschland kennen, weil ihr Deutschlehrer sie zu einem Besuch mit an die Schule genommen hatte.

Einer der Langemarck-Schüler hieß Walter. Er stammte aus Halle. Eva und Walter hatten sich schnell ineinander verguckt. Auch einer ihrer Freundinnen ging es so. „Die spätere Frau vom FDP-Politiker Wolfgang Mischnick“, erinnert sich die Radebeulerin. In die Flora, eine Gaststätte im Lößnitzgrund, die es heute nicht mehr gibt, gingen die verliebten Pärchen Sonntagnachmittag zum Tanz.

Doch das junge Glück währte nicht lange. Es war schon das Jahr 1944. Die faschistische Militärmaschinerie trommelte an jungen und älteren Männern zusammen, was sie nur kriegen konnte. Auch Walter, so erinnert sich Eva Rothmund, ist nicht in eine Verwaltung, sondern direkt an die Ostfront geschickt worden.

Die junge Frau hatte inzwischen ein Biologiestudium begonnen. Sie musste unterbrechen und wurde ebenfalls in den Osteinsatz zum Versorgungsdienst geschickt. „Ich hatte gehofft, meinen Walter vielleicht zu treffen.“ Einmal ist der junge Langemarck-Absolvent noch nach Dresden gekommen. „Können wir uns noch einmal treffen, hat er mir geschrieben“, sagt die 91-Jährige und ihre Stimme stockt.

Sie sind zusammen ins Kino in Dresden gegangen. Er hat nur ihre Hand gehalten und kaum ein Wort gesprochen. Am Bahnsteig, beim Abschied, haben sie sich umarmt. „Walter hat zu mir nur gesagt: Ich komme nie wieder.“ „Red nicht so was, habe ich ihm entgegnet.“ Später hat Eva Rothmund dann Walters Eltern geschrieben und nachgefragt. „Gefallen für Führer und Vaterland“, haben die mir nur trocken und bitter geantwortet.

Die besondere Radebeuler Schule mit den Elite-Schülern der Nazis war viele Jahrzehnte kein Thema in der Stadt. Im Stadtarchiv gibt es so gut wie keine Dokumente dazu. Archivleiterin Annette Karnatz erinnert sich noch an ein Ehepaar aus Dänemark, welches in den 1990er-Jahren mal in Radebeul war. Karnatz: „Er war wohl einer der Absolventen, aber richtig drüber gesprochen hat er nicht.“

Das eigentliche Gebäude der Goldschmidt-Villa gehört heute zu einer privaten Wohnanlage gegenüber dem Weinberg Paradies. Direkt neben der Villa befand sich das Wirtschaftshaus der Goldschmidts. Das Gebäude gehört heute der Familie Kühn. Beim Renovieren fand Geschichtsforscher Udo Kühn im letzten Sommer überraschend Dokumente von Absolventen eines Langemarck-Lehrgangs. Seitdem wird wieder über die ehemalige Schule in Radebeul gesprochen. Eva Rothmund hat sich bei der SZ gemeldet, um ihre Liebesgeschichte mit dem traurigen Ende zu erzählen.