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„Essig-Boden kannte in Riesa jeder“

Das Gelände Am Kuffenhaus war einmal Ausflugsziel, Likörfabrik und Getränkehandel. Nun rollen dort die Bagger.

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© Stadtmuseum

Von Stefan Lehmann

Riesa. Ein bisschen „Grummeln in der Magengrube“ habe sie dann doch gehabt, als sich die Baumaschinen in die Fassade fraßen, erzählt Ute Simon. „Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Eigentlich hatte ich mit dem Grundstück abgeschlossen.“ Aber so ganz geht es an der Riesaerin nicht vorbei, dass ihr Elternhaus nun abgerissen wurde, gesteht sie.

Jetzt ist das Gebäude verschwunden.
Jetzt ist das Gebäude verschwunden. © Sebastian Schultz

Gut 100 Jahre lang prägte das Kleine Kuffenhaus das Stadtbild an der Ecke Pausitzer Straße/Rostocker Straße. Ute Simon, Jahrgang 1969, hat dort ihre Kindheit und Jugend verbracht, gemeinsam mit den Eltern, Großeltern und weiteren Verwandten. Damals lautete ihr Nachname noch Boden. „Essig-Boden kannte in Riesa jeder“, erzählt Ute Simon. Im Jahr 1897 hatte Richard Boden, ihr Urgroßvater, das Haus und Gelände gekauft. Zu jener Zeit sah es entlang der heutigen Pausitzer Straße noch ganz anders aus, betont Jürgen Hennig. Der Hobby-Historiker beschäftigt sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Geschichte ehemaliger Riesaer Gasthäuser. „Die Neubauten in der Delle gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht“, sagt Hennig. Pausitz gehörte noch nicht einmal zur Stadt, was das Kuffenhaus wohl zu einem beliebten Ziel für Wochenendausflüge machte. Der Name des Hauses leitet sich möglicherweise von den Weidenkörben ab, die damals als Verpackung für Weinballons verwendet wurden. Sie wurden „Kuffen“ genannt.

Nachdem Richard Boden das Haus gekauft hatte, handelte er zunächst nur mit Speiseessig. Der Spitzname „Essig-Boden“ war geboren. „Früher hatte ja fast jeder einen solchen Spitznamen“, sagt Jürgen Hennig. Die verschiedenen Etiketten, die er gesammelt hat, zeigen: Beim Vertrieb von Essig sollte es nicht bleiben. Nach 1900 begann schrittweise zunächst die eigene Essigherstellung, 1912 wurden auf dem Gelände der Boden KG schon Trinkbranntweine produziert – dann schon unter dem Nachfolger Otto Boden. Später wuchs das Sortiment noch weiter. Die Sorten trugen Namen wie „Bodendictiner“ oder „Bodens Magendoktor“.

Bis Anfang der 70er-Jahre wurde der Essig in Riesa produziert und vertrieben, erinnert sich Ute Simon. Auch danach konnten die Riesaer noch vor Ort ihr Obst abgeben, wo es zu Saft verarbeitet wurde. „Ich weiß noch, wie die Leute Schlange standen“, sagt Jürgen Hennig. Und Ute Simon schwärmt von den Apfelbergen, die sich im Hof des Grundstücks türmten. „Das ist ein so intensiver Duft und Geschmack gewesen, den gibt es heute nicht mehr.“

Eben jenes Grundstück umfasste neben dem Kuffenhaus noch weitere Gebäude und erstreckte sich noch ein gutes Stück den Hang hinunter. „Dort gab es auch bis in die 80er eine Obstplantage, später hatten meine Eltern dort einen Gemüsegarten“, erzählt Ute Simon. Das Kuffenhaus selbst wurde vor allem als Wohnhaus der Familie genutzt. Insbesondere das Obergeschoss sei sehr verschachtelt gewesen, die Kinder teilten sich noch ein Bad mit Geschwistern des Großvaters. Auch sonst war der Bau nicht unbedingt im allerbesten Zustand. „Unser Großvater hatte vor allem das Ziel, die Gebäude zu erhalten, ohne Schulden zu machen.“ Deshalb sei nach und nach immer wieder etwas angebaut worden, „je nach Geld und Notwendigkeit“.

In den 80ern entwickelte sich die Firma zu einem reinen Handel. Sie war zu dieser Zeit auch längst keine eigenständige KG mehr: Bereits 1961 hatte sich der Staat eingekauft, später wurde das Unternehmen dann Teil der VEB Kelterei Lockwitzgrund. „Nach der Wende stand man dann vor der Frage: Was macht man mit dem Objekt?“, so Ute Simon. Nach dem Tod der Eltern 1991 übernahmen die Kinder die Geschäfte. Zunächst blieb der Getränkehandel neben dem Kuffenhaus. Nach der Elbeflut 2002 aber fiel die Entscheidung, das Geschäft aufzugeben. „Es wurde einfach zu viel.“ Schließlich arbeitete sie mittlerweile auch in der Familienbäckerei mit.

Für das Grundstück blieb nur der Verkauf – und für das Kuffenhaus und die Nachbargebäude der Abriss. „Das war mir klar, die Bausubstanz war zu schlecht“, sagt Ute Simon. Über die Jahre habe es verschiedene Interessenten gegeben, mit dem jetzigen hatte die Erbengemeinschaft ein gutes Jahr lang Gespräche geführt. „Wir wollten nicht in wilden Aktionismus verfallen“, sagt Simon. Dass es nach dem Verkauf dann so schnell ging, bis die Bagger anrollen, habe sie etwas überrascht. Aber immerhin hat die Boden-Erbin noch Zeit gehabt, einige Fotos vom Abriss und aus dem Inneren zu schießen. Nicht allein für sich: „Ein Album mit den Bildern wird wohl mein Bruder bekommen, der arbeitet mittlerweile als Arzt in Hessen.“