Merken

Erzähl mir von deiner Flucht

In Königstein trafen Flüchtlinge verschiedener Generationen auf Oberschüler. Eine emotionale Begegnung.

Teilen
Folgen
© Kristin Richter

Von Nancy Riegel

Königstein. Bernd Stracke sieht aus wie ein ganz normaler Typ Anfang 50. Kurze Haare, Hemd, Brille. Nichts deutet heute darauf hin, dass der 53-Jährige in der DDR lange Zotteln hatte und sich Anfang der 80er bei Auftritten mit seiner Punkband Sicherheitsnadeln an die unmöglichsten Stellen pinnte. Auch sieht man Bernd Stracke heute nicht mehr an, dass er wegen seiner Systemkritik zweimal im Gefängnis saß. Und schließlich von Westdeutschland freigekauft wurde.

Bernd Stracke spielte in der DDR in einer Punk-Band und landete wegen kritischer Aussagen im Gefängnis. „Im Kopf war ich schon immer ein Wessi, eingesperrt im Osten“, erzählt der 53-Jährige den Schülern.
Bernd Stracke spielte in der DDR in einer Punk-Band und landete wegen kritischer Aussagen im Gefängnis. „Im Kopf war ich schon immer ein Wessi, eingesperrt im Osten“, erzählt der 53-Jährige den Schülern. © Kristin Richter

„35 000 Mark war ich wert“, schätzt der gebürtige Leipziger. „Man kann es eigentlich als Menschenhandel bezeichnen.“ Bei diesen Worten schlucken seine Zuhörer. Oder besser gesagt, seine Leser. Denn Bernd Stracke ist heute ein lebendiges Buch, das von Zehntklässlern der Oberschule Königstein gelesen wird. Karoline, Bartek-Jan und Antonia hängen an den Lippen des ehemaligen DDR-Punks, der trotz seiner unfreiwilligen Flucht auch heute wieder in Sachsen lebt und gerne seine Geschichte erzählt, mehrmals in Plauderlaune gerät.

Nicht alle der 20 lebendigen Bücher sind bei der Dialogveranstaltung „Wir sind das Wir“ am Mittwoch in der Familienoase in Königstein so ausgeglichen, wenn es um ihre Fluchtgeschichte geht. Organisatorin Juliane Dietrich läuft von Tisch zu Tisch, schaut, dass jeder seinen passenden Dolmetscher bekommen hat. Neben DDR-Flüchtlingen sitzen hier auch Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Und auch viele aktuell Geflüchtete, aus Indien, Syrien, Afghanistan. Nicht alle konnten in ihrer kurzen Zeit in Deutschland schon die Sprache erlernen.

Bernd Stracke konnte zwar Deutsch in seiner Jugend. Verstanden fühlte er sich trotzdem nicht. Auf Antonias Frage hin, wie denn seine Jugend in der DDR so war, erzählt der 53-Jährige von seiner ersten Begegnung mit der Staatsmacht. Wie er im Alter von acht Jahren heimlich Westfernsehen schaute und so begeistert war von Pippi Langstrumpf im Taka-Tuka-Land, dass er beschloss, ab sofort ein waschechter Pirat zu sein. Natürlich auch mit Totenkopf-Abzeichen. „Das gefiel den Spitzeln gar nicht und sie verpfiffen mich bei meinen Eltern. Totenköpfe auf der Kleidung hätten schließlich die Nazis getragen“, erzählt er.

Ein guter Anfang

Unvorstellbar für die Zehntklässler, die sich ihre Haare färben können, wie sie wollen, T-Shirts mit Totenköpfen tragen und ihren Lieblingsverein auf den Klamotten. Auch ist es für sie seltsam zu erfahren, dass jemand im Knast landete, weil er Punkmusik spielte. „In der Schule lernen wir zwar etwas über das System der DDR, aber so etwas steht nicht im Geschichtsbuch“, resümiert Karoline nach dem Gespräch.

Als sich Juliane Dietrich Anfang März an die Oberschule in Königstein wandte, waren es genau solche Momente, auf die sie gehofft hat. „Dass die Schüler Verständnis für Geflüchtete aufbringen und sich in ihre Lage versetzen.“ Die Sozialpädagogin organisiert Biografieworkshops und hat sich letztes Jahr mit ihrer Familie in Gohrisch niedergelassen. Sie weiß, dass man Toleranz nicht erzwingen kann, auch nicht Verständnis. Aber zuhören und miteinander reden, das sei ein guter Anfang.

Zuhören, das können die Schüler. Innerhalb weniger Minuten verwandelt sich das Getobe der Teenager auf dem Flur in ein interessiertes Lauschen am Tisch. Sie haben sich vor dem Gespräch Fragen überlegt, nach der Familie, der Flucht und der Zukunft. Die Geschichten der lebendigen Bücher erzählen sich auch ohne Notizen.

„Meine Familie wäre getötet worden, wäre sie in ihrem Heimatland geblieben.“ Sadaf Bals Geschichte beginnt mit einem betretenen Schweigen seitens der Schüler. Auch, wenn die 19-Jährige selbst nichts von der Flucht und der Gefahr mitbekommen hat. Denn als ihre Eltern 1996 aus Afghanistan flohen, war sie noch gar nicht geboren. Sie wuchs in Frieden auf, machte ihr Abitur in Pirna und jetzt ein Freiwilliges Soziales Jahr. Nur die Erinnerungen ihres Vaters und ihrer Mutter bringen sie nach Afghanistan. Doch diese Momente sind selten. Ungern erzählen die Eltern vom Krieg; nur wenn die Nachrichten im Fernsehen laufen, wird das Thema angesprochen.

Juliane Dietrich ist diesem Verhalten, diesem Verdrängen in Vorbereitung zur Dialogveranstaltung mehrfach begegnet. „Es gab Erzähler, die haben sich viele Stunden mit mir unterhalten und dann doch abgesagt, weil ihnen die Sache zu nah ging. Gerade die Älteren, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden, konnten das nie richtig verarbeiten. Man musste die Befindlichkeiten vergessen, um in der Gesellschaft zu funktionieren.“ Trotzdem sind am Mittwoch 20 „Bücher“ und rund 50 „Leser“ zusammengekommen.

Sächsisch gegen schiefe Blicke

Die Leser, also die Schüler, haben passenderweise gerade das Thema Flucht im Geschichtsunterricht behandelt. „Aber mit fünf Jahre alten Lehrbüchern kann man diesen komplexen Stoff heute eben nicht mehr abhandeln“, sagt Geschichtslehrerin Christina Fischer. Sie weiß, dass es beim Thema Flucht keine festen Definitionen, kein Richtig oder Falsch gibt. Sie möchte, dass sich die Schüler selbst eine Meinung bilden. Und ist froh, dass die sonst so coolen 15- und 16-Jährigen an diesem Tag sogar Emotionen zeigen und wirkliches Interesse an den diversen Schicksalen. Eine Gruppe hat sogar zusammen geweint, als die Geflüchteten ihre Geschichte erzählten. Die Diskussion zum Thema wird in den kommenden Wochen nicht im Unterricht abreißen. Und auch nicht zu Hause am Esstisch, hofft die Lehrerin.

Zu Hause, das ist für die 19-jährige Sadar Sachsen. Heute fühlt sich die junge Frau mit den dunklen Augen „zu 70 Prozent deutsch und zu 30 Prozent afghanisch. Auch, wenn das viele anders sehen.“ Sie würde oftmals für einen Asylbewerber gehalten, und das, obwohl sie seit zwei Jahren einen deutschen Pass hat. „In solchen Situationen hilft nur sächseln, nu?“, sagt sie und muss lachen.