Von Rita Seyfert, Anja Gail und Wulf Stibenz
Die HO ist tot. Es lebe Tante Emma. Zwar haben die Discounter und Supermärkte im Landkreis Görlitz von Verkaufsfläche bis Angebot klar die Überhand. Aber die kleinen Lädchen zwischen Krauschwitz, Uhsmannsdorf, Boxberg, Kollm oder Jänkendorf gibt es immer noch. Konkurrenten seien die kleinen Geschäfte aus Sicht des Görlitzer IHK-Chefs Frank Großmann ohnehin nicht. „Wer als Tante-Emma-Laden mit den großen Supermarktketten konkurriert, hat über den Preiswettbewerb schon verloren“, sagt er.
Diese Kleinstläden sorgen für Leben auf dem Land
Der günstige Einkaufspreis für die Kunden ist es nicht, der die Kleingeschäfte am Leben erhält. Das liegt an den Menschen. Jenen, die zumeist auf eigenes Unternehmerrisiko die Geschäfte betreiben. Und an jenen Menschen, die hier kaufen. Denn in den Minimärkten gibt es was, das kein Großmarkt bietet: Das Thresengespräch über Hinz und Kunz, übers Wetter und die Benzinpreise, über den neuen Arzt und die frechen Rabauken vor der Oberschule. Das ist echtes Leben – und nicht nur der Einkauf zum Zweck. Und doch: Allein zwischen 1966 und 2013 haben im ländlichen Raum deutschlandweit 111 400 Verkaufsstellen geschlossen. Nur etwa 38 600 sind übriggeblieben. Denn die Kunden können ja zumindest warentechnisch nicht rundum zufriedengestellt werden, weil viele Güter schlichtweg keinen Platz in den Regalen finden. Wer überlebt, hat sich spezialisiert oder breit aufgestellt. Die Bio-Branche boomt – und noch besser mit Bio aus der Region. Oder aber es sind die Kombinationen in einem Laden: Postdienst, Lieferservice oder besonders aktives Engagement im Dorf.
Supermarktboom ist nicht das Ende
Was kaum überrascht, der Trend geht zum Supermarkt. Wie aus dem Handelsatlas der Industrie- und Handelskammer (IHK) 2015 hervorgeht, hat die Zahl der großen Einzelhandelsbetriebe im Vergleich zu 2010 zugenommen. Parallel dazu wuchs auch die Verkaufsfläche in Quadratmetern. Im Lebensmitteleinzelhandel rechnen sich demnach nur noch große Verkaufsmärkte jenseits der 1000 Quadratmeter. Neben den SB-Warenhäusern gehören auch die Verbraucher- und Supermärkte dazu.
Selbst die Marktforscher geben den Tante-Emma-Läden eine Chance. Das Berlin-Institut favorisiert Bürger-Läden und kleine Dienstleisterzentren. Insbesondere die größte Schwäche der Region – der Bevölkerungsrückgang in Kombination mit der Überalterung – hilft hier den Nischengeschäften. Weil die Versorgung auf dem Land sich für die Ketten nicht lohnt, ist ein kleines Geschäft noch möglich. In den dörflichen Zentren bekommen die Bürger nicht nur Waschpulver, Butter, Obst und Käse zu kaufen, sondern auch Dienstleistungen. Oder aber Bürger-Dorfläden, die mit Einwohnern, Gemeinde, Handel und regionalen Lieferanten gemeinsam auf den Weg gebracht werden und gleichzeitig als Markt-Treff dienen. Zu diesem Schluss kommen die Autoren der Studie „Von Hürden und Helden. Wie sich das Leben auf dem Land neu erfinden lässt.“ Die hat das Institut im Januar 2015 herausgegeben. Die Ergebnisse lassen sich unter anderem über das Internet abrufen.
Die hohe Autoverfügbarkeit spielt den Discountern in die Hände. Einer Untersuchung zur Mobilität in Deutschland aus dem Jahr 2008 zufolge erledigen 70 Prozent der Menschen auf dem Land ihre Einkäufe über Fahrten beziehungsweise Mitfahrten im Auto. Vielen Dörfern sind inzwischen aber auch die Bank- und Postfilialen abhandengekommen. Auch hier wird die Zahl vom Markt bestimmt. Aber so einfach ist das nicht, sagt das Berlin-Institut. Anders als medizinische Angebote, die von der Kassenärztlichen Vereinigung reguliert werden, ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Dienstleistungen keine Kernaufgabe der öffentlichen Daseinsfürsorge, aber ein Grundbedürfnis.
Neue Konzepte sind gefragt
Den mobilen Händlern und Dienstleistern in ihren rollenden Filialen gibt das Institut auf Dauer keine Perspektive. Die Anschaffung von speziellen Verkaufsbussen und ihr Betrieb seien vergleichsweise teuer, die Leistungen eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund empfehlen die Fachleute mit neuen Konzepten eben auch die Weiterentwicklung der Tante-Emma-Läden. Eine Voraussetzung sei, so das Berlin-Institut, die Bürger vor Ort als die späteren Nutzer von Anfang an einzubeziehen und eine genaue Bedarfsanalyse zu erstellen, zum Beispiel mit Hilfe einer Befragung von Tür zu Tür. Die Kunden müssen bereit sein, für einzelne Produkte etwas mehr Geld zu bezahlen als im Supermarkt. Zum Beispiel für frische Waren von regionalen Erzeugern.
Wenn sich in einem Dorf mehrere Dienstleister unter einem Dach zusammenfinden, würden sie von den geringeren Fixkosten profitieren. Der Kunde könnte gleich mehrere Gänge erledigen. Lokale Initiativen in dieser Richtung sollen deshalb durch Gemeinden unterstützt werden, sagen die Autoren der Studie. Die Kommunen könnten Räume in gemeindeeigenen Gebäuden günstig bereitstellen, bei der Suche helfen, Kontakte zwecks finanzieller Unterstützung und Förderprogramme vermitteln. Auch in Behörden sollte ein Umdenken einsetzen, das sich mehr an der Realität orientiert als bisher. Als Beispiele nennt das Institut die Anerkennung der Gemeinnützigkeit, wenn Bürgerinitiativen einen Laden betreiben.
Die Zeit rennt – auch in dieser Sparte. Längst haben die Macher der großen Ketten das Potenzial erkannt, was in den Dörfern schlummert. Es gibt schon die „Temma“ von Rewe. Allerdings eher im Westen der Republik. Die Handelskette Rewe betreibt damit seit Herbst 2009 mehrere Bio-Supermärkte auf verhältnismäßig kleinen Verkaufsflächen. Allerdings nur in „hochverdichteten Stadtteillagen“, wie Unternehmenssprecher Thomas Bonrath mitteilt. Aktuell sei das in Köln, Düsseldorf, Frankfurt, Bad Homburg, Hamburg und Berlin der Fall.
Die in Fulda ansässige Supermarktkette Tegut geht einen anderen Weg. Tegut ist unter anderem in Rheinland-Pfalz, Hessen, Bayern und Thüringen präsent und betreibt rund 290 Lebensmittelmärkte. Der erste Mini-Supermarkt auf dem Land „Lädchen für alles“ wurde 2010 eröffnet. Bislang steht das Konzept nach Einschätzung der Handelsfirma zwar wirtschaftlich noch nicht ganz auf festen Füßen. Aber es hilft, Versorgungslücken auf dem Land zu schließen. Die mittelständische Handelsgruppe stellt auf Nachfrage aus der Dorfbevölkerung einem Betreiber vor Ort oder einer Betreibergruppe auch die Ladeneinrichtung bereit und bleibt bis zum Verkauf der Waren deren Eigentümer. Das mindert das unternehmerische Risiko.
Kunden bestimmen das Motto
In Freiburg gibt es den Tante-Emma-Laden „Tischlein deck Dich“. Der ist durch und durch nostalgisch eingerichtet. Die meisten Waren sind zu Stückpreisen zu haben, in Gläsern aufbewahrt. Das Grundprinzip: Nicht nur kaufen, sondern staunen und plaudern; alles Nötige auf die Schnelle. In Pfullingen haben ein Metzger und ein Bäcker einen ehemaligen Landmarkt wiederbelebt. Das Grundprinzip: Zwei Ladenunternehmer tun sich zusammen und eröffnen als besondere Idee noch ein kleines Café im Laden. In Alsdorf packt eine Ladenbetreiberin die Einkaufstüten ein, sie liefert nach Hause, stellt Geschenkkörbe nach Wünschen zusammen und bietet besonders hochwertige und frische Produkte an. Das Grundprinzip: Den Servicegedanken in vollen Zügen ausleben. In Thüringen und Niedersachsen gibt es rollende Tante-Emma-Läden. Das Grundprinzip: Ein breites und vor allem das richtige Sortiment anbieten und einen freundlichen Fahrer an Bord haben. Im thüringischen Ballstädt haben Dorfbewohner eine Genossenschaft gegründet, mit Firmen und Gemeinde. Dem ging eine Befragung voraus. Das Grundprinzip: Einwohner sind zugleich Kunden und Teilhaber.
Allerdings ist das Überleben nicht so einfach. Die Idee, aus ehemaligen Schleckerfilialen Dorfläden zu machen, ist nur in begrenztem Maße aufgegangen. Die Drogeriemarkt-Kette war vor vier Jahren in Insolvenz gegangen. Seitdem steht der Großteil der zuletzt 5 500 deutschen Filialen leer. Handelsexperte Mark Sievers vom Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG schätzt ein, dass das flache Land dafür nicht interessant genug sei. Im Gegensatz dazu sagt der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels, dass Handelsketten in dünn besiedelten Regionen gerade auch mit Kleinflächenkonzepten punkten können.
Auf dem Land wünschen sich einer Befragung des Meinungsforschungsinstitutes Emnid zufolge mindestens 60 Prozent der Bevölkerung in Gemeinden mit weniger als 5 000 Einwohnern einen kleinen Nahversorger, den sie auch ohne Auto erreichen können. Die meisten Inhaber auf den Dörfern, die ihre Geschäfte in den vergangenen Jahren aufgegeben haben, sind in Rente gegangen und haben keinen Nachfolger in der Familie oder im Bekanntenkreis gefunden. Geschieht das, ist Schluss mit Tante Emma.
In unserer Bildergalerie zeigen wir zwanzig weitere Beispiele für kleine Läden mit großem Charme.