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Erste Gehirnoperation bei vollem Bewusstsein

Der Eingriff ist für die städtischen Kliniken eine Premiere. Die Neurochirurgie wird weiter ausgebaut.

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© Sven Ellger

Von Sandro Rahrisch

Die letzte Operation liegt vier Monate zurück, als Mechthild Weß erfährt, dass der Krebs wieder da ist. Diesmal befindet sich der Tumor dicht am Sehzentrum des Gehirns. Die Furcht, nach einem Eingriff könnte das Sichtfeld so eingeschränkt sein, als würde sie mit Scheuklappen durch die Welt gehen, ist groß. Denn mit Lesen und Schreiben verdient die Archivarin ihr Geld. In Göttingen arbeitet sie Kirchenbücher aus dem 17. und 18. Jahrhundert auf. „Die Vorstellung, einzuschlafen, wieder aufzuwachen und dann zu merken, dass das Augenlicht nicht mehr da ist, war ein Albtraum“, sagt die 58-Jährige. Mit Dr. Florian Stockhammer findet sie einen Arzt, der sie bei vollem Bewusstsein operiert.

Der Gehirnspezialist ist seit einem Monat neuer Chefarzt der Neurochirurgie im Friedrichstädter Krankenhaus. Seine erste große OP in Dresden ist für das Klinikum eine Premiere. Eine Hirnoperation im Wachzustand gab es dort bislang nicht. Stockhammer, der vom Uniklinikum Göttingen kommt und Mechthild Weß bereits zweimal operiert hat, hat auf diese Weise schon viele Tumore entfernt. Natürlich sei es immer das Ziel, so viele Krebszellen wie möglich herauszuholen, sagt der 44-Jährige. Aber in Regionen, in denen die Sprache, die Bewegung oder das Sehen angesiedelt ist, droht den Patienten bei jedem Schritt auch ein Verlust dieser Funktionen.

Sprache und Bewegung sind heilig

Eine millimetergenaue Landkarte der einzelnen Hirnregionen wäre da von Vorteil. Aber leider gibt es nur ein idealtypisches Modell. In der Realität sieht jedes Gehirn etwas anders aus. Und bei Operationen ist das Organ weich wie Pudding und verschiebt sich leicht. Stockhammer navigiert mit elektrischen Impulsen. Das Areal, das zum Beispiel für die Bewegung des Armes zuständig ist, lässt sich so auch im narkotisierten Zustand ausfindig machen. Der Arm zuckt kurz, und der Arzt weiß, bis wohin er gehen kann. Sprach- und Sehvermögen lassen sich allerdings nur bei vollem Bewusstsein testen.

Mechthild Weß ist für die OP nach Dresden gereist, weil sie Vertrauen zu Stockhammer hat, sagt sie. Sie erhält ähnlich wie bei einer Zahnarztbehandlung eine örtliche Betäubung. Mit Impulsen, welche die Sehfunktion vorübergehend beeinträchtigen sollen, tastet sich der Neurochirurg vor. Seine Patientin hat derweil einen Bildschirm vor Augen. An den Rändern tauchen Punkte auf, die sie orten soll. Der Mediziner entfernt so viel, wie es geht. Geheilt ist Mechthild Weß aber nicht.

Tumore seien selten scharf abgegrenzt wie ein Klumpen, so Stockhammer. Er vergleicht sie mit Wolken. Denn Tumorzellen infiltrieren das Gewebe ringsherum. „Wir können das nicht heilen, aber die Zeit bis zu den ersten Defiziten oder bis zum Tod verlängern“, sagt der Neurochirurg. Letztlich sei es eine Entscheidung des Patienten, wie oft er operiert werden möchte. Wie weit der Arzt gehen soll. Auf welche Funktionen die Erkrankten bereit sind zu verzichten. „Eines habe ich gelernt“, sagt Stockhammer. „Die Sprache ist den allermeisten absolut heilig, ebenso die Bewegungsfähigkeit.“ In erster Linie gelte es, keinen Schaden zuzufügen.

Mechthild Weß hat gut eine Woche nach ihrer Operation noch leichte Probleme, die richtigen Worte zu finden. Aber sowohl ihr Arzt als auch sie selbst sind optimistisch, dass sich das in den nächsten Wochen wieder geben wird. An diesem Wochenende darf sie das Krankenhaus verlassen und kehrt nach Göttingen zurück. „Mir ist es wichtig, anderen Patienten mit ähnlichen Tumoren zu sagen, dass medizinisch mehr möglich ist, als man es vielleicht denkt.“ Wie lange es noch gut geht, wisse sie nicht. Auf jeden Fall will sie bald ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Klinik zieht dieses Jahr um

In Zukunft will Florian Stockhammer in der Neurochirurgie auch Operationen durch die Nase mittels Endoskop durchführen. Dafür ist eine Zusammenarbeit mit den HNO-Ärzten geplant. Auch die Behandlung von Fehlbildungen und Tumoren im Wirbelsäulenbereich gehören zu seinen Spezialgebieten. Die letzten 23 Jahre war die Neurochirurgie am Neustädter Klinikum untergebracht. Nach einer Entscheidung des Sozialministeriums wechselte das Fachgebiet im Oktober nach Friedrichstadt, da dort die Unfallchirurgie etabliert ist und so die Zusammenarbeit gestärkt werden kann. Bis Mitte des Jahres soll die Klinik das bis dahin sanierte Haus N beziehen. Die Zahl der Betten erhöht sich dann auf 36. Vorgesehen ist auch ein 24-Stunden-Bereitschaftsdienst. Bislang werden die Neurochirurgen nachts angepiept.