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Erst die Arbeit, dann das Gelage

Bis Sonntag zieht der Historische Besiedlungszug durch Mittelsachsen. Es gibt auch eine Hochzeit. Nur verheiratet wird keiner.

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© André Braun

Von Linda Barthel

Mittelsachsen. Der Tag beginnt mit einer Panne. „Ein paar starke Männer zu Wagen neun, bitte“, ruft ein kräftiger Herr mit lauter Stimme. Sofort folgen einige Freiwillige der Aufforderung. Um Wagen neun bildet sich eine kleine Männertraube. Schnell ist klar, dass die hölzernen Räder den Tag nicht überstehen werden. Das gerade beladene Gefährt muss wieder geleert werden, das schwere Gepäck an anderer Stelle Platz finden. Die Männer legen los. Während sie Wagen neun entladen, warten ihre Gefährten wenige Meter weiter unter einem Pavillon. Die Kinder und Erwachsenen sind eng zusammengerückt, weil ein kräftiger Wind weht. Die meisten haben sich auf einer Bank niedergelassen, um ihre Füße noch ein wenig zu schonen. Schließlich steht ein langer Marsch bevor.

Bilder vom Historischen Besiedlungszug

Er hat das letzte Wort: Michael Ehnert ist der Lokator des Historischen Besiedlungszugs. Der 44-Jährige bestimmt, wo es langgeht.
Er hat das letzte Wort: Michael Ehnert ist der Lokator des Historischen Besiedlungszugs. Der 44-Jährige bestimmt, wo es langgeht.
Damit die Kinder nicht vollkommen erschöpft im Lager ankommen, ist für sie ein Platz im Planwagen reserviert. Dort haben es die kleinen Siedler gemütlich. Sie sitzen auf weichen Decken.
Damit die Kinder nicht vollkommen erschöpft im Lager ankommen, ist für sie ein Platz im Planwagen reserviert. Dort haben es die kleinen Siedler gemütlich. Sie sitzen auf weichen Decken.
Antje Reiter (li.) läuft bereits zum zwölften Mal im Tross mit. Für sie ist die hohe Geschwindigkeit der Siedler nichts Neues. SZ-Volontärin Linda Barthel muss sich erst einmal daran gewöhnen.
Antje Reiter (li.) läuft bereits zum zwölften Mal im Tross mit. Für sie ist die hohe Geschwindigkeit der Siedler nichts Neues. SZ-Volontärin Linda Barthel muss sich erst einmal daran gewöhnen.

Am Nachmittag zuvor hat der Historische Besiedlungszug sein Lager auf einem Feld in Hoyersdorf aufgebaut. Seit Sonntag ist der 180 Mann starke Tross in Mittelsachsen unterwegs. Jeden Tag muss eine andere Etappe bewältigt werden. Abends dürfen die Siedler dann die Füße hochgelegen und sich am Lagerfeuer wärmen. Auf Wein und eine Nacht im Zelt folgt die nächste Etappe.

An diesem Tag steht ein besonders langer und kräftezehrender Marsch an. Von Hoyersdorf soll es über Waldheim bis nach Moosheim gehen. Nach dem Frühstück haben die Siedler ihre Zelte abgebaut und das Gepäck auf die Planwagen geladen. Die Pferde sind gesattelt und zum Abmarsch bereit. Es könnte losgehen, wenn da nicht das Problem mit Wagen neun wäre. Das Umladen kostet die Siedler einige Minuten Zeit. Kurz nach zehn kann sich der Tross dann endlich in Bewegung setzen. 21 Kilometer Weg liegt vor ihm, darunter ein langer Berg. Schon nach wenigen Minuten stehen die ersten neugierigen Beobachter an der Straße und winken. Historisch bekleidete Männer, Frauen und Kinder kreuzen nicht alle Tage ihren Weg.

Die Siedler freut’s. Viele von ihnen haben ihr Gewand in aufwendiger Handarbeit selbst gefertigt. Antje Reiter musste sich sogar um zwei Kleider kümmern – ihr eigenes und das ihrer Tochter. „Eigentlich hat man dafür ein ganzes Jahr Zeit. Ich habe trotzdem erst wieder eine Woche vor unserem Treffen mit dem Nähen angefangen“, sagt die 53-Jährige. Sie zieht schon zum zwölften Mal mit dem Historischen Zug, der die Besiedlung der Striegistäler im 12. Jahrhundert nachstellt, durch Mittelsachsen. „Ich habe damals in der Zeitung von davon erfahren und fand es toll, dass unsere Geschichte nachgestellt wird“, erzählt Antje Reiter mit ein paar Kirschen in der Hand, die sie sich gerade von einem Baum am Wegesrand gepflückt hat.

Viel Zeit für solche kurzen Pausen bleibt nicht. Der Tross ist nämlich ziemlich schnell unterwegs. Die Pferde bestimmen das Tempo. „Viele unterschätzen die Geschwindigkeit“, sagt Antje Reiter. Es gebe auch immer ein paar Siedler, die auf halber Strecke in einen Planwagen springen, weil sie ihre Beine nicht mehr tragen. Dort sollen eigentlich nur die Kinder und ein Erwachsener sitzen, der auf sie aufpasst. Und natürlich die Älteren, die nicht mehr so gut zu Fuß unterwegs sind. Viele haben aber das Ziel, mindestens die Hälfte der Strecke zu Fuß zurücklegen.

Während die Pferde zügig die Straße in Richtung Waldheim entlang traben, machen die beiden einzigen Esel im Tross ihrem Ruf alle Ehre. Sie sind störrisch. „Wirst du wohl laufen!“, schreit ein Siedler und gibt einem der Tiere einen Klaps. „Was ist denn heute bloß los mit dir ?“

Während sich der Eselhüter ärgert, haben die anderen ihre Freude. Gerade ist eine Anwohnerin mit zwei kleinen Schüsseln aus ihrem Haus gekommen, um den Tross mit Schokolade und Trockenfrüchten zu versorgen. „Das kommt häufiger vor und ist immer sehr schön. Manchmal kriegen wir auch Wasser oder die Kinder ein Eis“, sagt Antje Reiter. Sie wird während des Zuges nicht nur von ihrer 16-jährigen Tochter, sondern auch von ihre schwarzen Hündin Xixxie begleitet.

In Waldheim angekommen, ist der Vierbeiner der große Star. Die Schaulustigen am Wegesrand sind von Xixxie – aber natürlich auch von den Siedlern und ihren Wagen – begeistert. Viele machen Fotos und winken dem Tross zu. „Früher sind wir immer mit Musik durch die Städte gezogen. Das machen wir heute leider nicht mehr“, sagt Antje Reiter.

Nach der Runde durch die Stadt steht ein langer Anstieg bevor. Die sogenannte Hungerbemme gibt es aber erst in der Pause – und die wird eingelegt, nachdem der Berg bezwungen ist. Vielen Siedlern drückt aber schon jetzt der Magen. Deshalb machen sie noch schnell einen Abstecher in den Supermarkt. Das hat vielleicht nicht allzu viel mit dem historischen Siedlertum zu tun, aber der Mensch braucht nun einmal Nahrung. Neben Chips und Gummibärchen wird auch die eine oder andere Flasche Bier aus dem Markt getragen.

Jetzt kann der Berg beklommen werden. Der ist jedoch am Ende gar nicht so steil, wie vom Lokator angekündigt. Diese Rolle hat in diesem Jahr erstmals Michael Ehnert inne. Er läuft seit Jahren im Besiedlungszug mit und ist jetzt der Kopf der Truppe. „Ich habe am Ende immer das letzte Wort“, sagt der 44-Jährige grinsend. Heißt: Er bestimmt, wo’s langgeht. Natürlich entscheidet der Lokator aber im Sinne der Gemeinschaft. „Wir sind eine große Familie. Jeder passt auf jeden auf.“ Manchmal frage er sich zwar schon, warum er sich die ganzen Strapazen antut, aber solche Gedanken verfliegen schnell. „Das alles hier ist einfach großartig. Das wichtigste ist die Gemeinschaft und das Beisammensein.“

Viel Wein und gutes Fleisch

Während der Pause am Waldrand stärkt sich Michael Ehnert wie die anderen mit Hungerbemme, Gurke und Paprika. Jetzt sind es „nur“ noch acht Kilometer bis Moosheim. Während sich der Tross langsam wieder in Bewegung setzt, trifft die kleinsten Siedler die Müdigkeit. Sie liegen in eine Decke gehüllt auf dem Planwagen und lassen sich von ihren Eltern in den Schlaf singen. „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten“, tönt es durch den Wald. Die Planwagen holpern über den steinigen Weg. Einige Siedler gönnen sich zum Nachtisch noch ein paar Kirschen vom Baum. Nach einer halbstündigen Gesangseinlage verstummen die Lieder dann nach und nach. „Puh, jetzt könnten wir aber langsam mal da sein“, sagt eine Siedlerin. „Ja, ich merke es jetzt auch in den Beinen“, stimmt ihr eine andere.

Und dann, vier Stunden nach dem Aufbruch in Hoyersdorf, ist das Ziel in Sicht: Der Alpaka-Hof in Moosheim. Nach der Ankunft gibt es für die Siedler erst einmal eine Stärkung in Form von heißer Kartoffelsuppe und Wienern. Der eine oder andere gönnt sich dazu noch ein kühles Bier. Dann haben die Siedler wieder genug Kraft, um ihre Zelte aufzubauen. Jeder Handgriff sitzt und deshalb dauert es nicht lange, bis das Lager steht.

Nun bricht der gemütliche Teil des Tages an. Nach einer kurzen Probe beginnen die Gaukler mit Musik und Tanz. Die Siedler können ausgelassen feiern, auf sie wartet nämlich ein Ruhetag in Moosheim. Deshalb gibt es am Abend auch die traditionelle Siedlerhochzeit. Die ist – im Gegensatz zum Vorjahr – allerdings nicht echt, sondern wird von der Theatergruppe gespielt. Braut und Bräutigam sind aber immerhin ein Paar. Der Lokator hat die beiden kaum vermählt, da beginnt auch schon das große Gelage mit viel Wein und gutem Fleisch.

Das haben sich die Siedler auch redlich verdient. Immerhin müssen sie in den nächsten Tagen noch einige Kilometer zurücklegen. Heute geht es von Moosheim nach Mobendorf und morgen weiter nach Hartha. Am Sonntag erreicht der Tross dann sein Ziel, die Sachsenburg. „Es ist immer sehr traurig, wenn wir uns dort alle verabschieden“, sagt Antje Reiter. Dann heißt es ein Jahr warten, bis die Siedler wieder zusammenkommen, um sich zum 24. Mal auf den Weg durch Mittelsachsen zu machen. „Wenn wir uns wiedersehen, dann fühlt sich das an, als würde ich nach Hause kommen.“